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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Schärfer kann man diese Eigenthümlichkeit so ausdrücken, daß
zwei denselben Gegenstand, dasselbe Verhältniß betreffende Pro-
cesse unter denselben Partheien und mit Kreuzung der Parthei-
stellung zu einem Proceß vereinigt sind, daher judicium duplex
oder actio mixta. Jeder von beiden Theilen ist rücksichtlich
dessen, was er begehrt, Kläger, rücksichtlich dessen, was von ihm
begehrt wird, Beklagter. 113)

Im ältern Proceß gehörte zur Klasse dieser Klagen auch die
Vindication, wenigstens wenn sonst das angegebene Kriterium,
daß jeder der streitenden Theile mit einer positiven Behauptung,
einem selbständigen Anspruch auftritt, richtig ist. Während näm-
lich den Regeln des gewöhnlichen Processes gemäß der Beklagte
der Behauptung des Klägers "daß die Sache sein sei" nur die
"daß sie nicht sein sei" hätte entgegenstellen dürfen, lautete die
Erwiderung in Wirklichkeit positiv "daß sie dem Beklagten ge-
höre". 114) Allerdings lag auch in der letzten Behauptung eine
Negation des klägerischen Eigenthums, allein eine Bestreitung in
positiver Gestalt, eine Behauptung, die nicht schon, wie bei
den beiden bisher betrachteten Klagformen in der Klage selbst
vorgesehen war. Während der Richter bei allen andern Processen
(judicia simplicia) nur auf Existenz oder Nichtexistenz des kläge-
rischen
Anspruchs erkennen konnte, ward er durch diese Form
der Doppelklage in Stand gesetzt, in derselben Weise auch über
den des Beklagten seinen Ausspruch zu thun. Daß damit die
Möglichkeit, beide Fragen negativ zu beantworten, abgeschnitten
gewesen sei, wäre von vornherein kaum zu glauben, denn un-
möglich konnte man dem Richter zumuthen, wenn er sich über-
zeugte, daß keiner von beiden Eigenthümer war, das Gegen-
theil zu erklären; es wird unten für einen speciellen Anwendungs-

113) L. 15 §. 1 de procur. (3. 3), L. 4 pr. de tut. (26. 1).
114) Gaj. IV. 16. Daran hält auch Cic. pro Murena c. 12 bei seinem
Abkürzungsvorschlag fest, denn er legt dem Beklagten nicht die nackte Nega-
tion: tuus non est, sondern den positiven Widerspruch: immo meus est in
den Mund.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Schärfer kann man dieſe Eigenthümlichkeit ſo ausdrücken, daß
zwei denſelben Gegenſtand, daſſelbe Verhältniß betreffende Pro-
ceſſe unter denſelben Partheien und mit Kreuzung der Parthei-
ſtellung zu einem Proceß vereinigt ſind, daher judicium duplex
oder actio mixta. Jeder von beiden Theilen iſt rückſichtlich
deſſen, was er begehrt, Kläger, rückſichtlich deſſen, was von ihm
begehrt wird, Beklagter. 113)

Im ältern Proceß gehörte zur Klaſſe dieſer Klagen auch die
Vindication, wenigſtens wenn ſonſt das angegebene Kriterium,
daß jeder der ſtreitenden Theile mit einer poſitiven Behauptung,
einem ſelbſtändigen Anſpruch auftritt, richtig iſt. Während näm-
lich den Regeln des gewöhnlichen Proceſſes gemäß der Beklagte
der Behauptung des Klägers „daß die Sache ſein ſei“ nur die
„daß ſie nicht ſein ſei“ hätte entgegenſtellen dürfen, lautete die
Erwiderung in Wirklichkeit poſitiv „daß ſie dem Beklagten ge-
höre“. 114) Allerdings lag auch in der letzten Behauptung eine
Negation des klägeriſchen Eigenthums, allein eine Beſtreitung in
poſitiver Geſtalt, eine Behauptung, die nicht ſchon, wie bei
den beiden bisher betrachteten Klagformen in der Klage ſelbſt
vorgeſehen war. Während der Richter bei allen andern Proceſſen
(judicia simplicia) nur auf Exiſtenz oder Nichtexiſtenz des kläge-
riſchen
Anſpruchs erkennen konnte, ward er durch dieſe Form
der Doppelklage in Stand geſetzt, in derſelben Weiſe auch über
den des Beklagten ſeinen Ausſpruch zu thun. Daß damit die
Möglichkeit, beide Fragen negativ zu beantworten, abgeſchnitten
geweſen ſei, wäre von vornherein kaum zu glauben, denn un-
möglich konnte man dem Richter zumuthen, wenn er ſich über-
zeugte, daß keiner von beiden Eigenthümer war, das Gegen-
theil zu erklären; es wird unten für einen ſpeciellen Anwendungs-

113) L. 15 §. 1 de procur. (3. 3), L. 4 pr. de tut. (26. 1).
114) Gaj. IV. 16. Daran hält auch Cic. pro Murena c. 12 bei ſeinem
Abkürzungsvorſchlag feſt, denn er legt dem Beklagten nicht die nackte Nega-
tion: tuus non est, ſondern den poſitiven Widerſpruch: immo meus est in
den Mund.
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[90/0106] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. Schärfer kann man dieſe Eigenthümlichkeit ſo ausdrücken, daß zwei denſelben Gegenſtand, daſſelbe Verhältniß betreffende Pro- ceſſe unter denſelben Partheien und mit Kreuzung der Parthei- ſtellung zu einem Proceß vereinigt ſind, daher judicium duplex oder actio mixta. Jeder von beiden Theilen iſt rückſichtlich deſſen, was er begehrt, Kläger, rückſichtlich deſſen, was von ihm begehrt wird, Beklagter. 113) Im ältern Proceß gehörte zur Klaſſe dieſer Klagen auch die Vindication, wenigſtens wenn ſonſt das angegebene Kriterium, daß jeder der ſtreitenden Theile mit einer poſitiven Behauptung, einem ſelbſtändigen Anſpruch auftritt, richtig iſt. Während näm- lich den Regeln des gewöhnlichen Proceſſes gemäß der Beklagte der Behauptung des Klägers „daß die Sache ſein ſei“ nur die „daß ſie nicht ſein ſei“ hätte entgegenſtellen dürfen, lautete die Erwiderung in Wirklichkeit poſitiv „daß ſie dem Beklagten ge- höre“. 114) Allerdings lag auch in der letzten Behauptung eine Negation des klägeriſchen Eigenthums, allein eine Beſtreitung in poſitiver Geſtalt, eine Behauptung, die nicht ſchon, wie bei den beiden bisher betrachteten Klagformen in der Klage ſelbſt vorgeſehen war. Während der Richter bei allen andern Proceſſen (judicia simplicia) nur auf Exiſtenz oder Nichtexiſtenz des kläge- riſchen Anſpruchs erkennen konnte, ward er durch dieſe Form der Doppelklage in Stand geſetzt, in derſelben Weiſe auch über den des Beklagten ſeinen Ausſpruch zu thun. Daß damit die Möglichkeit, beide Fragen negativ zu beantworten, abgeſchnitten geweſen ſei, wäre von vornherein kaum zu glauben, denn un- möglich konnte man dem Richter zumuthen, wenn er ſich über- zeugte, daß keiner von beiden Eigenthümer war, das Gegen- theil zu erklären; es wird unten für einen ſpeciellen Anwendungs- 113) L. 15 §. 1 de procur. (3. 3), L. 4 pr. de tut. (26. 1). 114) Gaj. IV. 16. Daran hält auch Cic. pro Murena c. 12 bei ſeinem Abkürzungsvorſchlag feſt, denn er legt dem Beklagten nicht die nackte Nega- tion: tuus non est, ſondern den poſitiven Widerſpruch: immo meus est in den Mund.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/106>, abgerufen am 29.03.2024.