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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Heinrich Stilling's Alter,
von ihm selbst beschrieben.


Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines sieben
und siebenzigsten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkämpf-
ter körperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkräftungen, durch-
weht mich gleichsam ein heiliger Schauer. Die große Reihe
durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor
meiner Seele vorüber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie
ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt
ist, den ich erst lüften werde, wenn meine Hülle im Grabe ruht
und der Auferstehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig-
keit, Seligkeit durch die Versöhnungsgnade meines himmlischen
Führers wird von diesem Bilde mein ganzes Wesen durchstrahlen.
Hallelujah!

Es sieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich
meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be-
schrieben habe. Mein Alter und meine Jugend sind gar ver-
schiedene Standpunkte; ich sitze nicht mehr im kleinen dunkeln
Stübchen zwischen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptisch,
und nähe für den Nachbar Jakob an einem Brustlatz, oder
mache Knöpfe an den Sonntagsrock für Schuhmachers Pe-
ter. Eberhard Stilling
schreitet nicht mehr im leinenen
Kittel kräftig umher, und Margareth kommt nicht mehr
emsig, um hinter dem Ofen im bunten Kästchen Salz in die
Suppe zu holen. Nicht mehr schnurren die Räder meiner blü-
henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres
Gesanges ist längst verhallt.

Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns stau-
nenden Zuhörern von seinen neuen Entdeckungen in der Elektri-

Stilling's sämmtl. Schriften. I. Band. 40

Heinrich Stilling’s Alter,
von ihm ſelbſt beſchrieben.


Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines ſieben
und ſiebenzigſten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf-
ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch-
weht mich gleichſam ein heiliger Schauer. Die große Reihe
durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor
meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie
ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt
iſt, den ich erſt luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht
und der Auferſtehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig-
keit, Seligkeit durch die Verſoͤhnungsgnade meines himmliſchen
Fuͤhrers wird von dieſem Bilde mein ganzes Weſen durchſtrahlen.
Hallelujah!

Es ſieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich
meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be-
ſchrieben habe. Mein Alter und meine Jugend ſind gar ver-
ſchiedene Standpunkte; ich ſitze nicht mehr im kleinen dunkeln
Stuͤbchen zwiſchen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptiſch,
und naͤhe fuͤr den Nachbar Jakob an einem Bruſtlatz, oder
mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr Schuhmachers Pe-
ter. Eberhard Stilling
ſchreitet nicht mehr im leinenen
Kittel kraͤftig umher, und Margareth kommt nicht mehr
emſig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤſtchen Salz in die
Suppe zu holen. Nicht mehr ſchnurren die Raͤder meiner bluͤ-
henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres
Geſanges iſt laͤngſt verhallt.

Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns ſtau-
nenden Zuhoͤrern von ſeinen neuen Entdeckungen in der Elektri-

Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 40
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[[613]/0621] Heinrich Stilling’s Alter, von ihm ſelbſt beſchrieben. Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines ſieben und ſiebenzigſten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf- ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch- weht mich gleichſam ein heiliger Schauer. Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt iſt, den ich erſt luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht und der Auferſtehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig- keit, Seligkeit durch die Verſoͤhnungsgnade meines himmliſchen Fuͤhrers wird von dieſem Bilde mein ganzes Weſen durchſtrahlen. Hallelujah! Es ſieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be- ſchrieben habe. Mein Alter und meine Jugend ſind gar ver- ſchiedene Standpunkte; ich ſitze nicht mehr im kleinen dunkeln Stuͤbchen zwiſchen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptiſch, und naͤhe fuͤr den Nachbar Jakob an einem Bruſtlatz, oder mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr Schuhmachers Pe- ter. Eberhard Stilling ſchreitet nicht mehr im leinenen Kittel kraͤftig umher, und Margareth kommt nicht mehr emſig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤſtchen Salz in die Suppe zu holen. Nicht mehr ſchnurren die Raͤder meiner bluͤ- henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres Geſanges iſt laͤngſt verhallt. Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns ſtau- nenden Zuhoͤrern von ſeinen neuen Entdeckungen in der Elektri- Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 40

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [613]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/621>, abgerufen am 29.03.2024.