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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Zweites Buch.
verdanken soll 1), wurde durch die Winde der Sierra de Guadarrama
und noch mehr durch die mächtigen Wälder temperirt; noch
im Jahre 1582 nennt sie Argote de Molina "ein gutes Revier
für Sauen und Bären". Damals wählte man es zum Sommer-
aufenthalt; heute ist sein Klima unter allen Städten Spaniens
das verderblichste. Die Wälder sind zur Zeit Philipp IV ver-
schwunden. Schon im Jahre 1640 machte sich der Holzmangel
empfindlich fühlbar, man fand nöthig, Baumpflanzungen vorzu-
schreiben, besonders an Flüssen, und führte das Sprichwort an,
"dass die Franzosen an die Vergangenheit, die Italiener an die
Zukunft, die Spanier nur an die Gegenwart denken".

Philipp II mathematischem Geist leuchtete die Lage "im
Nabel seiner Reiche" ein. Der Neubau wurde mit echt spanischem
Leichtsinn betrieben, die Linien der Strassen blieben dem Zufall
überlassen; trotz des vorzüglichen Materials von Holz und Stein
baute man eilfertig aus Lehm, wie man es noch jetzt in kastilischen
Landstädten sieht, und um die Luft rein zu halten, verzichtete
man auf die Abtritte. Daher war Madrid die schmutzigste und
übelriechendste Stadt Europas 2).

Nach und nach verliess der Adel Toledo und Valladolid
und baute sich Paläste 3). Der leichte Verdienst lockte die er-
werbende Klasse an; "Mancher erdreistet sich (sagt Medina)
zu dem Grafen Gevatter zu sagen, dessen Land er vor kurzem
hinter dem Esel verlassen hatte". Aber da der Unterhalt für
Menschen und Vieh aus weiter Ferne herbeigeschafft werden
musste, war das Leben schon unter Philipp II theurer als in Rom.
Nachdem Philipp III es noch einmal mit Valladolid versucht

1) Madrid e nome arabico et vuol dire loco ventoso, d'aere chiaro, sottile,
et sano, et di sito fertile. Venturini, Viaggio 1571 (Handschrift). Bei der Ein-
nahme durch Ramiro II (939) kommt der Name Magerita zuerst vor. Es muy sana
el clima de M., por frio y seco. Tirso, En M. y en una casa.
2) Man goss den nassen Lehm zwischen Bretter, die man wegnahm, wenn er
festgeworden war. "Non avendo necessarii o latrine in casa, gittano tutto quello
che noi solemo mandar per essi dalle strade, e dalle finestre avanti le loro porte,
et dove passano, il che e pero di manco biasimo che'l veder come si veggono et
per spesso gl'huomini, e talhora anco qualche femina far il loro agio publicamente
per dette strade il giorno, mostrando arditamente la faccia come fossero della
scuola di Diogene" Venturini, a. a. O. Tirso, Quien calla otorga I, 7 sagt, man
werde krank von seinen nächtlichen Dünsten.
3) Es infinita la nobleza che le habita: toda Castilla se pasa a la corte.
Tirso, En Madrid y en una casa I, 8.

Zweites Buch.
verdanken soll 1), wurde durch die Winde der Sierra de Guadarrama
und noch mehr durch die mächtigen Wälder temperirt; noch
im Jahre 1582 nennt sie Argote de Molina „ein gutes Revier
für Sauen und Bären“. Damals wählte man es zum Sommer-
aufenthalt; heute ist sein Klima unter allen Städten Spaniens
das verderblichste. Die Wälder sind zur Zeit Philipp IV ver-
schwunden. Schon im Jahre 1640 machte sich der Holzmangel
empfindlich fühlbar, man fand nöthig, Baumpflanzungen vorzu-
schreiben, besonders an Flüssen, und führte das Sprichwort an,
„dass die Franzosen an die Vergangenheit, die Italiener an die
Zukunft, die Spanier nur an die Gegenwart denken“.

Philipp II mathematischem Geist leuchtete die Lage „im
Nabel seiner Reiche“ ein. Der Neubau wurde mit echt spanischem
Leichtsinn betrieben, die Linien der Strassen blieben dem Zufall
überlassen; trotz des vorzüglichen Materials von Holz und Stein
baute man eilfertig aus Lehm, wie man es noch jetzt in kastilischen
Landstädten sieht, und um die Luft rein zu halten, verzichtete
man auf die Abtritte. Daher war Madrid die schmutzigste und
übelriechendste Stadt Europas 2).

Nach und nach verliess der Adel Toledo und Valladolid
und baute sich Paläste 3). Der leichte Verdienst lockte die er-
werbende Klasse an; „Mancher erdreistet sich (sagt Medina)
zu dem Grafen Gevatter zu sagen, dessen Land er vor kurzem
hinter dem Esel verlassen hatte“. Aber da der Unterhalt für
Menschen und Vieh aus weiter Ferne herbeigeschafft werden
musste, war das Leben schon unter Philipp II theurer als in Rom.
Nachdem Philipp III es noch einmal mit Valladolid versucht

1) Madrid è nome arabico et vuol dire loco ventoso, d’aere chiaro, sottile,
et sano, et di sito fertile. Venturini, Viaggio 1571 (Handschrift). Bei der Ein-
nahme durch Ramiro II (939) kommt der Name Magerita zuerst vor. Es muy sana
el clima de M., por frio y seco. Tirso, En M. y en una casa.
2) Man goss den nassen Lehm zwischen Bretter, die man wegnahm, wenn er
festgeworden war. „Non avendo necessarii ó latrine in casa, gittano tutto quello
che noi solemo mandar per essi dalle strade, e dalle finestre avanti le loro porte,
et dove passano, il che è pero di manco biasimo che’l veder come si veggono et
per spesso gl’huomini, e talhora anco qualche femina far il loro agio publicamente
per dette strade il giorno, mostrando arditamente la faccia come fossero della
scuola di Diogene“ Venturini, a. a. O. Tirso, Quien calla otorga I, 7 sagt, man
werde krank von seinen nächtlichen Dünsten.
3) Es infinita la nobleza che le habita: toda Castilla se pasa á la corte.
Tirso, En Madrid y en una casa I, 8.
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[170/0190] Zweites Buch. verdanken soll 1), wurde durch die Winde der Sierra de Guadarrama und noch mehr durch die mächtigen Wälder temperirt; noch im Jahre 1582 nennt sie Argote de Molina „ein gutes Revier für Sauen und Bären“. Damals wählte man es zum Sommer- aufenthalt; heute ist sein Klima unter allen Städten Spaniens das verderblichste. Die Wälder sind zur Zeit Philipp IV ver- schwunden. Schon im Jahre 1640 machte sich der Holzmangel empfindlich fühlbar, man fand nöthig, Baumpflanzungen vorzu- schreiben, besonders an Flüssen, und führte das Sprichwort an, „dass die Franzosen an die Vergangenheit, die Italiener an die Zukunft, die Spanier nur an die Gegenwart denken“. Philipp II mathematischem Geist leuchtete die Lage „im Nabel seiner Reiche“ ein. Der Neubau wurde mit echt spanischem Leichtsinn betrieben, die Linien der Strassen blieben dem Zufall überlassen; trotz des vorzüglichen Materials von Holz und Stein baute man eilfertig aus Lehm, wie man es noch jetzt in kastilischen Landstädten sieht, und um die Luft rein zu halten, verzichtete man auf die Abtritte. Daher war Madrid die schmutzigste und übelriechendste Stadt Europas 2). Nach und nach verliess der Adel Toledo und Valladolid und baute sich Paläste 3). Der leichte Verdienst lockte die er- werbende Klasse an; „Mancher erdreistet sich (sagt Medina) zu dem Grafen Gevatter zu sagen, dessen Land er vor kurzem hinter dem Esel verlassen hatte“. Aber da der Unterhalt für Menschen und Vieh aus weiter Ferne herbeigeschafft werden musste, war das Leben schon unter Philipp II theurer als in Rom. Nachdem Philipp III es noch einmal mit Valladolid versucht 1) Madrid è nome arabico et vuol dire loco ventoso, d’aere chiaro, sottile, et sano, et di sito fertile. Venturini, Viaggio 1571 (Handschrift). Bei der Ein- nahme durch Ramiro II (939) kommt der Name Magerita zuerst vor. Es muy sana el clima de M., por frio y seco. Tirso, En M. y en una casa. 2) Man goss den nassen Lehm zwischen Bretter, die man wegnahm, wenn er festgeworden war. „Non avendo necessarii ó latrine in casa, gittano tutto quello che noi solemo mandar per essi dalle strade, e dalle finestre avanti le loro porte, et dove passano, il che è pero di manco biasimo che’l veder come si veggono et per spesso gl’huomini, e talhora anco qualche femina far il loro agio publicamente per dette strade il giorno, mostrando arditamente la faccia come fossero della scuola di Diogene“ Venturini, a. a. O. Tirso, Quien calla otorga I, 7 sagt, man werde krank von seinen nächtlichen Dünsten. 3) Es infinita la nobleza che le habita: toda Castilla se pasa á la corte. Tirso, En Madrid y en una casa I, 8.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/190>, abgerufen am 18.04.2024.