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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Zweites Buch.

"Ein falscher Prophet ist erstanden, dessen Ankunft wohl
als Prophezeiung des Ruins und des Endes der Malerei ange-
sehen werden kann (S. 203 f.). Ein Eiferer für unsere Kunst hat
gesagt: Gleich wie am Ende dieser sichtbaren Welt der Anti-
christ mit seinen erdichteten Wundern und ungeheuerlichen Thaten,
die aber trügerisch-falsch, ohne Wahrheit und Dauer sind, zahl-
reiche Völker ins Verderben hineinziehen wird, indem er sich für
den wahren Christus ausgiebt: also ist jetzt ein Anti-Michelangelo
erstanden, der mit seiner gesuchten und äusserlichen Nachahmung,
seiner wundersamen Lebendigkeit, vielen Leuten aller Art hat
vormachen können, dass das die gute Malerei sei, und seine
Weise und Lehre die richtige; so hat er sie vom Weg der Un-
sterblichkeit abgewandt. Er hat mit seiner neuen Speise und
ihrer starkgewürzten Brühe eine solche Lüsternheit und Zucht-
losigkeit (golosina y licencia) aufgeregt, dass man zweifeln muss,
ob die Natur im Stande sein werde, den starken Stoff zu ver-
dauen und nicht ein Schlagfluss folgen werde. "Wer hat je ge-
malt und es so gut gemacht, wie dieses Monstrum von Geist
und Talent, fast ohne Regeln, Lehre, Studien, bloss mit der
Kunst seines Genies und mit der Natur vor Augen?"

Aber wie besteht dieser Naturalismus, wo er an die höhe-
ren Aufgaben herantritt? "Wahrlich, wer eine Auferweckung des
Lazarus, eine Verklärung Christi unternimmt ohne Ideen, nach
der Natur, der gleicht einem Blinden, der einen Blumenstrauss
sammeln will. Was ist denn Natur? Ist es der Taffet, die Lein-
wand, das Irdengeschirr, die Brote, die Früchte, die Vögel, das
Thier, das unvernünftige und das vernünftige? Der schwarze
Hintergrund thuts hier nicht, diese beliebte und wolfeile Aus-
kunft, um die Figuren hervorspringen zu lassen und die Augen
zu alarmiren (hacer ruido)! Wo will er finden die zärtlich hei-
ligen Thränen des Heilandes, seinen Ernst voll Liebe und Macht,
das Ebenmass des "Schönsten unter den Menschenkindern?" Wo
das anbetende Staunen des Lazarus? Wo den in Thränen ver-
hüllten Jubel und Dank der beiden Schwestern, der geschäftigen
und der gedankenvollen? Das ist unmöglich ohne Wissenschaft;
und mit ihr findet sich alles".

Das fühlt der Naturalist und darum wählt er sich solche
religiöse Stoffe, welche ihm Anknüpfungspunkte bieten. Aber
man sehe, mit wie feinem Takt er sich seiner Aufgabe entledigt.
Es ist der Besuch Christi bei den zwei Schwestern Martha und
Maria. "Da sind Vorräthe aufgespeichert von Kapaunen, Pfauen

Zweites Buch.

„Ein falscher Prophet ist erstanden, dessen Ankunft wohl
als Prophezeiung des Ruins und des Endes der Malerei ange-
sehen werden kann (S. 203 f.). Ein Eiferer für unsere Kunst hat
gesagt: Gleich wie am Ende dieser sichtbaren Welt der Anti-
christ mit seinen erdichteten Wundern und ungeheuerlichen Thaten,
die aber trügerisch-falsch, ohne Wahrheit und Dauer sind, zahl-
reiche Völker ins Verderben hineinziehen wird, indem er sich für
den wahren Christus ausgiebt: also ist jetzt ein Anti-Michelangelo
erstanden, der mit seiner gesuchten und äusserlichen Nachahmung,
seiner wundersamen Lebendigkeit, vielen Leuten aller Art hat
vormachen können, dass das die gute Malerei sei, und seine
Weise und Lehre die richtige; so hat er sie vom Weg der Un-
sterblichkeit abgewandt. Er hat mit seiner neuen Speise und
ihrer starkgewürzten Brühe eine solche Lüsternheit und Zucht-
losigkeit (golosina y licencia) aufgeregt, dass man zweifeln muss,
ob die Natur im Stande sein werde, den starken Stoff zu ver-
dauen und nicht ein Schlagfluss folgen werde. „Wer hat je ge-
malt und es so gut gemacht, wie dieses Monstrum von Geist
und Talent, fast ohne Regeln, Lehre, Studien, bloss mit der
Kunst seines Genies und mit der Natur vor Augen?“

Aber wie besteht dieser Naturalismus, wo er an die höhe-
ren Aufgaben herantritt? „Wahrlich, wer eine Auferweckung des
Lazarus, eine Verklärung Christi unternimmt ohne Ideen, nach
der Natur, der gleicht einem Blinden, der einen Blumenstrauss
sammeln will. Was ist denn Natur? Ist es der Taffet, die Lein-
wand, das Irdengeschirr, die Brote, die Früchte, die Vögel, das
Thier, das unvernünftige und das vernünftige? Der schwarze
Hintergrund thuts hier nicht, diese beliebte und wolfeile Aus-
kunft, um die Figuren hervorspringen zu lassen und die Augen
zu alarmiren (hacer ruido)! Wo will er finden die zärtlich hei-
ligen Thränen des Heilandes, seinen Ernst voll Liebe und Macht,
das Ebenmass des „Schönsten unter den Menschenkindern?“ Wo
das anbetende Staunen des Lazarus? Wo den in Thränen ver-
hüllten Jubel und Dank der beiden Schwestern, der geschäftigen
und der gedankenvollen? Das ist unmöglich ohne Wissenschaft;
und mit ihr findet sich alles“.

Das fühlt der Naturalist und darum wählt er sich solche
religiöse Stoffe, welche ihm Anknüpfungspunkte bieten. Aber
man sehe, mit wie feinem Takt er sich seiner Aufgabe entledigt.
Es ist der Besuch Christi bei den zwei Schwestern Martha und
Maria. „Da sind Vorräthe aufgespeichert von Kapaunen, Pfauen

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[228/0252] Zweites Buch. „Ein falscher Prophet ist erstanden, dessen Ankunft wohl als Prophezeiung des Ruins und des Endes der Malerei ange- sehen werden kann (S. 203 f.). Ein Eiferer für unsere Kunst hat gesagt: Gleich wie am Ende dieser sichtbaren Welt der Anti- christ mit seinen erdichteten Wundern und ungeheuerlichen Thaten, die aber trügerisch-falsch, ohne Wahrheit und Dauer sind, zahl- reiche Völker ins Verderben hineinziehen wird, indem er sich für den wahren Christus ausgiebt: also ist jetzt ein Anti-Michelangelo erstanden, der mit seiner gesuchten und äusserlichen Nachahmung, seiner wundersamen Lebendigkeit, vielen Leuten aller Art hat vormachen können, dass das die gute Malerei sei, und seine Weise und Lehre die richtige; so hat er sie vom Weg der Un- sterblichkeit abgewandt. Er hat mit seiner neuen Speise und ihrer starkgewürzten Brühe eine solche Lüsternheit und Zucht- losigkeit (golosina y licencia) aufgeregt, dass man zweifeln muss, ob die Natur im Stande sein werde, den starken Stoff zu ver- dauen und nicht ein Schlagfluss folgen werde. „Wer hat je ge- malt und es so gut gemacht, wie dieses Monstrum von Geist und Talent, fast ohne Regeln, Lehre, Studien, bloss mit der Kunst seines Genies und mit der Natur vor Augen?“ Aber wie besteht dieser Naturalismus, wo er an die höhe- ren Aufgaben herantritt? „Wahrlich, wer eine Auferweckung des Lazarus, eine Verklärung Christi unternimmt ohne Ideen, nach der Natur, der gleicht einem Blinden, der einen Blumenstrauss sammeln will. Was ist denn Natur? Ist es der Taffet, die Lein- wand, das Irdengeschirr, die Brote, die Früchte, die Vögel, das Thier, das unvernünftige und das vernünftige? Der schwarze Hintergrund thuts hier nicht, diese beliebte und wolfeile Aus- kunft, um die Figuren hervorspringen zu lassen und die Augen zu alarmiren (hacer ruido)! Wo will er finden die zärtlich hei- ligen Thränen des Heilandes, seinen Ernst voll Liebe und Macht, das Ebenmass des „Schönsten unter den Menschenkindern?“ Wo das anbetende Staunen des Lazarus? Wo den in Thränen ver- hüllten Jubel und Dank der beiden Schwestern, der geschäftigen und der gedankenvollen? Das ist unmöglich ohne Wissenschaft; und mit ihr findet sich alles“. Das fühlt der Naturalist und darum wählt er sich solche religiöse Stoffe, welche ihm Anknüpfungspunkte bieten. Aber man sehe, mit wie feinem Takt er sich seiner Aufgabe entledigt. Es ist der Besuch Christi bei den zwei Schwestern Martha und Maria. „Da sind Vorräthe aufgespeichert von Kapaunen, Pfauen

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/252>, abgerufen am 29.03.2024.