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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Velazquez.
Genie (wie der Natur) noch immer für das was es sah und wollte,
auch die Mittel nicht gefehlt haben1). Die italienische Malerei
des vierzehnten Jahrhunderts würde schwerlich anders geartet
sein, wenn die neue Oeltechnick schon bekannt gewesen wäre,
und der grosse Holländer wäre wohl nicht unmöglich gewesen,
wenn er sich mit irgend einem andern Medium hätte zurecht-
finden müssen. Dem grossen Haufen derer, die den Pinsel füh-
ren, imponirt Velazquez vor allem durch den äussern Schein jener
Mittel, als der geistreichste Praktiker, d. h. der mit dem wenig-
sten am meisten zu sagen weiss, und man vergisst oft, dass ihm
dies nur Mittel zum Zweck war.

Daher auch sind die Gemälde des Velazquez von nie ver-
sagender Anziehungskraft. Von keinem kann man soviel bei-
sammen sehen, ohne Ueberdruss. Denn er ist fast in jedem Bilde
neu. Er hat nicht wenige Bilder gemalt, deren jedes sui generis
ist, auf dessen Variationen anderwärts ganze Existenzen gegrün-
det worden wären. Der Zauber des Lebens, den sie ausüben,
liegt im äusserlichsten und im innerlichsten: im Schimmer der
Hautoberfläche und im Ausstralen des Willens, im Schein des
athmenden, pulsirenden Augenblicks und in der Tiefe des
Charakters. Treffend sagt J. C. Robinson, "dass seine Werke
auf alle Zeiten, auch die entferntesten, so lange sie existiren,
eine Wirkung ausüben werden, so mächtig, dass man in der Erinne-
rung die Vorgänge wirklich miterlebt zu haben glauben könne"2).

Deshalb eignet sich das Werk des Velazquez für eine
monographische Behandlung. Man kann sogar sagen, dass
jedes einzelne seiner Werke zu einer solchen reizt. Andern sind
ohne Zweifel weit bedeutendere und erbaulichere Stoffe zuge-
fallen, andere haben ein höheres Mass von Schaffenskraft mitbe-
kommen. Andern haben eindringlichere Töne und berauschendere
Akkorde zu Gebote gestanden. Neben den Coloristen der vene-

1) Ch. Blanc, Rembrandt II, 22. 32. H. Ludwig, Grundsätze der Oelmalerei.
Leipzig 1876 S. 40.
2) His principal works . . . . like the immortal creations of Shakespeare,
are replete with such intense and vivid realism that, as long as the world endures,
and they remain in evidence, they will probably commend themselves to the observer
in as complete earnest as at the first moment of their production. The pictures of
Velazquez have this in common with photographs, that they impress the mind
with such a powerful sense of actuality, as almost to suggest to the beholder, in
their after-remembrance, the having assisted at the visible passages of human action
represented. J. C. Robinson, Memoranda on fifty pictures. London 1868 S. 43.

Velazquez.
Genie (wie der Natur) noch immer für das was es sah und wollte,
auch die Mittel nicht gefehlt haben1). Die italienische Malerei
des vierzehnten Jahrhunderts würde schwerlich anders geartet
sein, wenn die neue Oeltechnick schon bekannt gewesen wäre,
und der grosse Holländer wäre wohl nicht unmöglich gewesen,
wenn er sich mit irgend einem andern Medium hätte zurecht-
finden müssen. Dem grossen Haufen derer, die den Pinsel füh-
ren, imponirt Velazquez vor allem durch den äussern Schein jener
Mittel, als der geistreichste Praktiker, d. h. der mit dem wenig-
sten am meisten zu sagen weiss, und man vergisst oft, dass ihm
dies nur Mittel zum Zweck war.

Daher auch sind die Gemälde des Velazquez von nie ver-
sagender Anziehungskraft. Von keinem kann man soviel bei-
sammen sehen, ohne Ueberdruss. Denn er ist fast in jedem Bilde
neu. Er hat nicht wenige Bilder gemalt, deren jedes sui generis
ist, auf dessen Variationen anderwärts ganze Existenzen gegrün-
det worden wären. Der Zauber des Lebens, den sie ausüben,
liegt im äusserlichsten und im innerlichsten: im Schimmer der
Hautoberfläche und im Ausstralen des Willens, im Schein des
athmenden, pulsirenden Augenblicks und in der Tiefe des
Charakters. Treffend sagt J. C. Robinson, „dass seine Werke
auf alle Zeiten, auch die entferntesten, so lange sie existiren,
eine Wirkung ausüben werden, so mächtig, dass man in der Erinne-
rung die Vorgänge wirklich miterlebt zu haben glauben könne“2).

Deshalb eignet sich das Werk des Velazquez für eine
monographische Behandlung. Man kann sogar sagen, dass
jedes einzelne seiner Werke zu einer solchen reizt. Andern sind
ohne Zweifel weit bedeutendere und erbaulichere Stoffe zuge-
fallen, andere haben ein höheres Mass von Schaffenskraft mitbe-
kommen. Andern haben eindringlichere Töne und berauschendere
Akkorde zu Gebote gestanden. Neben den Coloristen der vene-

1) Ch. Blanc, Rembrandt II, 22. 32. H. Ludwig, Grundsätze der Oelmalerei.
Leipzig 1876 S. 40.
2) His principal works . . . . like the immortal creations of Shakespeare,
are replete with such intense and vivid realism that, as long as the world endures,
and they remain in evidence, they will probably commend themselves to the observer
in as complete earnest as at the first moment of their production. The pictures of
Velazquez have this in common with photographs, that they impress the mind
with such a powerful sense of actuality, as almost to suggest to the beholder, in
their after-remembrance, the having assisted at the visible passages of human action
represented. J. C. Robinson, Memoranda on fifty pictures. London 1868 S. 43.
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[9/0029] Velazquez. Genie (wie der Natur) noch immer für das was es sah und wollte, auch die Mittel nicht gefehlt haben 1). Die italienische Malerei des vierzehnten Jahrhunderts würde schwerlich anders geartet sein, wenn die neue Oeltechnick schon bekannt gewesen wäre, und der grosse Holländer wäre wohl nicht unmöglich gewesen, wenn er sich mit irgend einem andern Medium hätte zurecht- finden müssen. Dem grossen Haufen derer, die den Pinsel füh- ren, imponirt Velazquez vor allem durch den äussern Schein jener Mittel, als der geistreichste Praktiker, d. h. der mit dem wenig- sten am meisten zu sagen weiss, und man vergisst oft, dass ihm dies nur Mittel zum Zweck war. Daher auch sind die Gemälde des Velazquez von nie ver- sagender Anziehungskraft. Von keinem kann man soviel bei- sammen sehen, ohne Ueberdruss. Denn er ist fast in jedem Bilde neu. Er hat nicht wenige Bilder gemalt, deren jedes sui generis ist, auf dessen Variationen anderwärts ganze Existenzen gegrün- det worden wären. Der Zauber des Lebens, den sie ausüben, liegt im äusserlichsten und im innerlichsten: im Schimmer der Hautoberfläche und im Ausstralen des Willens, im Schein des athmenden, pulsirenden Augenblicks und in der Tiefe des Charakters. Treffend sagt J. C. Robinson, „dass seine Werke auf alle Zeiten, auch die entferntesten, so lange sie existiren, eine Wirkung ausüben werden, so mächtig, dass man in der Erinne- rung die Vorgänge wirklich miterlebt zu haben glauben könne“ 2). Deshalb eignet sich das Werk des Velazquez für eine monographische Behandlung. Man kann sogar sagen, dass jedes einzelne seiner Werke zu einer solchen reizt. Andern sind ohne Zweifel weit bedeutendere und erbaulichere Stoffe zuge- fallen, andere haben ein höheres Mass von Schaffenskraft mitbe- kommen. Andern haben eindringlichere Töne und berauschendere Akkorde zu Gebote gestanden. Neben den Coloristen der vene- 1) Ch. Blanc, Rembrandt II, 22. 32. H. Ludwig, Grundsätze der Oelmalerei. Leipzig 1876 S. 40. 2) His principal works . . . . like the immortal creations of Shakespeare, are replete with such intense and vivid realism that, as long as the world endures, and they remain in evidence, they will probably commend themselves to the observer in as complete earnest as at the first moment of their production. The pictures of Velazquez have this in common with photographs, that they impress the mind with such a powerful sense of actuality, as almost to suggest to the beholder, in their after-remembrance, the having assisted at the visible passages of human action represented. J. C. Robinson, Memoranda on fifty pictures. London 1868 S. 43.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/29>, abgerufen am 25.04.2024.