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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Erstes Buch.
zianischen und niederländischen Schule erscheint der Spanier
prosaisch und nüchtern. Ja wir wüssten keinen, der den Unvor-
bereiteten so wenig ansprechen kann. Aber eins hatte er voraus.
Bei vielen liegt das Grosse mehr im Arsenal ihrer bewunderns-
würdigen Darstellungsmittel, denen sie jedweden Stoff anzupassen
wissen, als in der Arbeit, die sie dem Einzelnen zuwenden, in der
Geisteskraft, mit der sie aus jedem Gegenstand eigens die in ihm
latente Kunst herausdestilliren. Wenn ihre Kunst uns stets be-
rückt: das einzelne Werk gewinnt uns nur halben Antheil ab.

Da ist nun der Spanier in jedem Bilde neu und eigen, in
der Erfindung wie in der Technik. Für den Geschichtsforscher
sind die Werke dieses "Geheimsekretärs der Natur"1) Urkunden
der Zeit; dem Philosophen zeigen sie seinen Hauptgegenstand,
den Menschen, wie im Hohlspiegel; sie sind aufregend für den
ausübenden Künstler, und ihre Details bestehen vor dem Auge
des Anatomen wie des Sportsmanns und des Schusters.

Seine Werke besitzen die Eigenschaft in besonderem Grade,
welche Palomino als die "Kanonisation" eines Kunstwerks bezeich-
net: die Originalität. In den grossen Historienbildern ist keine
Anknüpfung an früheres zu entdecken; sie sind auch unnach-
ahmlich geblieben. Was ihn aber von allen andern im eminenten
Sinne originellen Malern unterscheidet, das ist ihre Einfalt, ihre
ungefärbte Naturwahrheit. Seine beiden optischen Meisterwerke
sind Erinnerungen an gesehene Situationen der trivialsten und
beschränktesten Art. Denn sonst beruht der Eindruck der Ori-
ginalität auf einer übermächtigen Subjectivität, die jedem Zug
ihren Stempel aufdrückt.

Das Interesse, die Begeisterung, welche wir Kunstwerken
der Vergangenheit widmen, gründet sich wol nicht bloss auf die
historische Wissbegier, auch nicht auf die praktische Nützlichkeit
solcher Studien; sie dürfte selbst von der Stellung in dem müssi-
gen Streit über den Vorzug des Alten und Modernen ziemlich
unabhängig sein. Die Maler sagen, sie könnten von den Alten
technisch nichts mehr lernen; jedenfalls verhält es sich in dieser
Beziehung mit ihrer Kunst anders als z. B. mit dem Kunstge-
werbe. Der Reiz der alten Denkmäler liegt in der hier nieder-
gelegten besondern Erscheinung der Menschheit, der geistig-
körperlichen, die durch gewisse Verhältnisse von Zeit, Bildung
und Race bedingt, so wenig wie diese Verhältnisse je wiederkehren

1) Ch. Blanc: Velazquez -- le secretaire intime de la nature.

Erstes Buch.
zianischen und niederländischen Schule erscheint der Spanier
prosaisch und nüchtern. Ja wir wüssten keinen, der den Unvor-
bereiteten so wenig ansprechen kann. Aber eins hatte er voraus.
Bei vielen liegt das Grosse mehr im Arsenal ihrer bewunderns-
würdigen Darstellungsmittel, denen sie jedweden Stoff anzupassen
wissen, als in der Arbeit, die sie dem Einzelnen zuwenden, in der
Geisteskraft, mit der sie aus jedem Gegenstand eigens die in ihm
latente Kunst herausdestilliren. Wenn ihre Kunst uns stets be-
rückt: das einzelne Werk gewinnt uns nur halben Antheil ab.

Da ist nun der Spanier in jedem Bilde neu und eigen, in
der Erfindung wie in der Technik. Für den Geschichtsforscher
sind die Werke dieses „Geheimsekretärs der Natur“1) Urkunden
der Zeit; dem Philosophen zeigen sie seinen Hauptgegenstand,
den Menschen, wie im Hohlspiegel; sie sind aufregend für den
ausübenden Künstler, und ihre Details bestehen vor dem Auge
des Anatomen wie des Sportsmanns und des Schusters.

Seine Werke besitzen die Eigenschaft in besonderem Grade,
welche Palomino als die „Kanonisation“ eines Kunstwerks bezeich-
net: die Originalität. In den grossen Historienbildern ist keine
Anknüpfung an früheres zu entdecken; sie sind auch unnach-
ahmlich geblieben. Was ihn aber von allen andern im eminenten
Sinne originellen Malern unterscheidet, das ist ihre Einfalt, ihre
ungefärbte Naturwahrheit. Seine beiden optischen Meisterwerke
sind Erinnerungen an gesehene Situationen der trivialsten und
beschränktesten Art. Denn sonst beruht der Eindruck der Ori-
ginalität auf einer übermächtigen Subjectivität, die jedem Zug
ihren Stempel aufdrückt.

Das Interesse, die Begeisterung, welche wir Kunstwerken
der Vergangenheit widmen, gründet sich wol nicht bloss auf die
historische Wissbegier, auch nicht auf die praktische Nützlichkeit
solcher Studien; sie dürfte selbst von der Stellung in dem müssi-
gen Streit über den Vorzug des Alten und Modernen ziemlich
unabhängig sein. Die Maler sagen, sie könnten von den Alten
technisch nichts mehr lernen; jedenfalls verhält es sich in dieser
Beziehung mit ihrer Kunst anders als z. B. mit dem Kunstge-
werbe. Der Reiz der alten Denkmäler liegt in der hier nieder-
gelegten besondern Erscheinung der Menschheit, der geistig-
körperlichen, die durch gewisse Verhältnisse von Zeit, Bildung
und Race bedingt, so wenig wie diese Verhältnisse je wiederkehren

1) Ch. Blanc: Velazquez — le secrétaire intime de la nature.
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[10/0030] Erstes Buch. zianischen und niederländischen Schule erscheint der Spanier prosaisch und nüchtern. Ja wir wüssten keinen, der den Unvor- bereiteten so wenig ansprechen kann. Aber eins hatte er voraus. Bei vielen liegt das Grosse mehr im Arsenal ihrer bewunderns- würdigen Darstellungsmittel, denen sie jedweden Stoff anzupassen wissen, als in der Arbeit, die sie dem Einzelnen zuwenden, in der Geisteskraft, mit der sie aus jedem Gegenstand eigens die in ihm latente Kunst herausdestilliren. Wenn ihre Kunst uns stets be- rückt: das einzelne Werk gewinnt uns nur halben Antheil ab. Da ist nun der Spanier in jedem Bilde neu und eigen, in der Erfindung wie in der Technik. Für den Geschichtsforscher sind die Werke dieses „Geheimsekretärs der Natur“ 1) Urkunden der Zeit; dem Philosophen zeigen sie seinen Hauptgegenstand, den Menschen, wie im Hohlspiegel; sie sind aufregend für den ausübenden Künstler, und ihre Details bestehen vor dem Auge des Anatomen wie des Sportsmanns und des Schusters. Seine Werke besitzen die Eigenschaft in besonderem Grade, welche Palomino als die „Kanonisation“ eines Kunstwerks bezeich- net: die Originalität. In den grossen Historienbildern ist keine Anknüpfung an früheres zu entdecken; sie sind auch unnach- ahmlich geblieben. Was ihn aber von allen andern im eminenten Sinne originellen Malern unterscheidet, das ist ihre Einfalt, ihre ungefärbte Naturwahrheit. Seine beiden optischen Meisterwerke sind Erinnerungen an gesehene Situationen der trivialsten und beschränktesten Art. Denn sonst beruht der Eindruck der Ori- ginalität auf einer übermächtigen Subjectivität, die jedem Zug ihren Stempel aufdrückt. Das Interesse, die Begeisterung, welche wir Kunstwerken der Vergangenheit widmen, gründet sich wol nicht bloss auf die historische Wissbegier, auch nicht auf die praktische Nützlichkeit solcher Studien; sie dürfte selbst von der Stellung in dem müssi- gen Streit über den Vorzug des Alten und Modernen ziemlich unabhängig sein. Die Maler sagen, sie könnten von den Alten technisch nichts mehr lernen; jedenfalls verhält es sich in dieser Beziehung mit ihrer Kunst anders als z. B. mit dem Kunstge- werbe. Der Reiz der alten Denkmäler liegt in der hier nieder- gelegten besondern Erscheinung der Menschheit, der geistig- körperlichen, die durch gewisse Verhältnisse von Zeit, Bildung und Race bedingt, so wenig wie diese Verhältnisse je wiederkehren 1) Ch. Blanc: Velazquez — le secrétaire intime de la nature.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/30>, abgerufen am 29.03.2024.