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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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viele Daten, welche auf die in der Lebensgeschichte berührten Personen
und Zustände oft überraschendes Licht werfen. Die Biographie eines
Künstlers, der in diesem Maasse Spiegel seines Zeitalters ist, würde ohne
Orientirung in dem letztern wie das Fragment einer verlorenen Hand-
schrift sein. Aber diese Orientirung muss man suchen nicht in Geschichts-
werken, um banale kulturhistorische Einleitungen zu schreiben, sondern
in den Tagebüchern, Depeschen und Comödien der Zeit.

Die Reisen jenseits der Pyrenäen gaben auch Gelegenheit zu einiger
Kenntniss von Land und Leuten, die zum vollen Verständniss der Kunst-
werke ebenfalls nicht zu entbehren ist. Velazquez sollte dort nicht bloss
in Madrid studirt werden, obwol ausser Madrid kaum etwas von ihm
zu finden ist. Wenn die erste Eigenschaft eines Werkes der nach-
ahmenden Künste Wahrheit ist (besteht doch dessen Genuss eigentlich
in der Wiedererkennung), wie kann man ein Urtheil haben, ohne
das zu kennen was der Künstler vor Augen hatte. Zwar die Dons mit
den golillas und die Damen in den vertugadines sind an den Ufern
des Manzanares nicht mehr zu finden; aber die Race und die Scholle
ist noch wenig verändert. -- Oft hört man Dinge unnatürlich nennen,
bloss weil man sie nie gesehen hat; man setzt auf Rechnung des Künstlers
was im Gegenstand lag; man verfolgt die Descendenz der Motive als
seien sie Arcana einer Kastenüberlieferung, während sie vor Jedermanns
Augen lagen; man nennt eine Auffassung steif oder roh, affektirt oder
ideal, wo es sich um ganz ehrliche Protokollirung der Wirklichkeit han-
delt. Die angeborene Geberdensprache des Südländers erscheint dem
Nordländer pantomimisch, und manierirte Beweglichkeit bloss weil sie
formlos und aufgeregt ist, als Puls des Lebens. So wurden z. B. in
einem neusten Machwerk die Landschaften unsers Malers mit aufgehäng-
ten Draperien verglichen, obwohl bei jedem, der im castilischen Hochland
reist, auf Schritt und Tritt ihre Erinnerung hervorgerufen wird.

Noch ein Wort über Anordnung und Ausstattung!

Die Geschichte eines Künstlers ist vor allem die Geschichte seiner
Werke, und es kostet nicht die wenigste Mühe, die letzteren zu placiren,
wo äussere Zeugnisse im Stich lassen. In unserm Fall sind wir nicht
so glücklich daran wie etwa bei Rembrandt oder Ribera, aber auch
nicht so rathlos wie bei Murillo. Die grossen Wandlungen der Malweise
stehen fest. Aber mit Gewalt alle Bilder auf Jahr und Monat datiren
wollen, würde zu Selbsttäuschungen führen. Wie selten (man möchte
sagen, nur zufällig) bestätigen nachfolgende äussere Aufschlüsse die
Deduction! Eine Gruppe von Erscheinungen nimmt bei anhaltender
Beschäftigung unwillkürlich eine gewisse Verkettung im Innern an, und
man fühlt sich zuletzt seiner Sache so gewiss, als habe man dem Mann

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viele Daten, welche auf die in der Lebensgeschichte berührten Personen
und Zustände oft überraschendes Licht werfen. Die Biographie eines
Künstlers, der in diesem Maasse Spiegel seines Zeitalters ist, würde ohne
Orientirung in dem letztern wie das Fragment einer verlorenen Hand-
schrift sein. Aber diese Orientirung muss man suchen nicht in Geschichts-
werken, um banale kulturhistorische Einleitungen zu schreiben, sondern
in den Tagebüchern, Depeschen und Comödien der Zeit.

Die Reisen jenseits der Pyrenäen gaben auch Gelegenheit zu einiger
Kenntniss von Land und Leuten, die zum vollen Verständniss der Kunst-
werke ebenfalls nicht zu entbehren ist. Velazquez sollte dort nicht bloss
in Madrid studirt werden, obwol ausser Madrid kaum etwas von ihm
zu finden ist. Wenn die erste Eigenschaft eines Werkes der nach-
ahmenden Künste Wahrheit ist (besteht doch dessen Genuss eigentlich
in der Wiedererkennung), wie kann man ein Urtheil haben, ohne
das zu kennen was der Künstler vor Augen hatte. Zwar die Dons mit
den golillas und die Damen in den vertugadines sind an den Ufern
des Manzanares nicht mehr zu finden; aber die Race und die Scholle
ist noch wenig verändert. — Oft hört man Dinge unnatürlich nennen,
bloss weil man sie nie gesehen hat; man setzt auf Rechnung des Künstlers
was im Gegenstand lag; man verfolgt die Descendenz der Motive als
seien sie Arcana einer Kastenüberlieferung, während sie vor Jedermanns
Augen lagen; man nennt eine Auffassung steif oder roh, affektirt oder
ideal, wo es sich um ganz ehrliche Protokollirung der Wirklichkeit han-
delt. Die angeborene Geberdensprache des Südländers erscheint dem
Nordländer pantomimisch, und manierirte Beweglichkeit bloss weil sie
formlos und aufgeregt ist, als Puls des Lebens. So wurden z. B. in
einem neusten Machwerk die Landschaften unsers Malers mit aufgehäng-
ten Draperien verglichen, obwohl bei jedem, der im castilischen Hochland
reist, auf Schritt und Tritt ihre Erinnerung hervorgerufen wird.

Noch ein Wort über Anordnung und Ausstattung!

Die Geschichte eines Künstlers ist vor allem die Geschichte seiner
Werke, und es kostet nicht die wenigste Mühe, die letzteren zu placiren,
wo äussere Zeugnisse im Stich lassen. In unserm Fall sind wir nicht
so glücklich daran wie etwa bei Rembrandt oder Ribera, aber auch
nicht so rathlos wie bei Murillo. Die grossen Wandlungen der Malweise
stehen fest. Aber mit Gewalt alle Bilder auf Jahr und Monat datiren
wollen, würde zu Selbsttäuschungen führen. Wie selten (man möchte
sagen, nur zufällig) bestätigen nachfolgende äussere Aufschlüsse die
Deduction! Eine Gruppe von Erscheinungen nimmt bei anhaltender
Beschäftigung unwillkürlich eine gewisse Verkettung im Innern an, und
man fühlt sich zuletzt seiner Sache so gewiss, als habe man dem Mann

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[20/0040] Erstes Buch. viele Daten, welche auf die in der Lebensgeschichte berührten Personen und Zustände oft überraschendes Licht werfen. Die Biographie eines Künstlers, der in diesem Maasse Spiegel seines Zeitalters ist, würde ohne Orientirung in dem letztern wie das Fragment einer verlorenen Hand- schrift sein. Aber diese Orientirung muss man suchen nicht in Geschichts- werken, um banale kulturhistorische Einleitungen zu schreiben, sondern in den Tagebüchern, Depeschen und Comödien der Zeit. Die Reisen jenseits der Pyrenäen gaben auch Gelegenheit zu einiger Kenntniss von Land und Leuten, die zum vollen Verständniss der Kunst- werke ebenfalls nicht zu entbehren ist. Velazquez sollte dort nicht bloss in Madrid studirt werden, obwol ausser Madrid kaum etwas von ihm zu finden ist. Wenn die erste Eigenschaft eines Werkes der nach- ahmenden Künste Wahrheit ist (besteht doch dessen Genuss eigentlich in der Wiedererkennung), wie kann man ein Urtheil haben, ohne das zu kennen was der Künstler vor Augen hatte. Zwar die Dons mit den golillas und die Damen in den vertugadines sind an den Ufern des Manzanares nicht mehr zu finden; aber die Race und die Scholle ist noch wenig verändert. — Oft hört man Dinge unnatürlich nennen, bloss weil man sie nie gesehen hat; man setzt auf Rechnung des Künstlers was im Gegenstand lag; man verfolgt die Descendenz der Motive als seien sie Arcana einer Kastenüberlieferung, während sie vor Jedermanns Augen lagen; man nennt eine Auffassung steif oder roh, affektirt oder ideal, wo es sich um ganz ehrliche Protokollirung der Wirklichkeit han- delt. Die angeborene Geberdensprache des Südländers erscheint dem Nordländer pantomimisch, und manierirte Beweglichkeit bloss weil sie formlos und aufgeregt ist, als Puls des Lebens. So wurden z. B. in einem neusten Machwerk die Landschaften unsers Malers mit aufgehäng- ten Draperien verglichen, obwohl bei jedem, der im castilischen Hochland reist, auf Schritt und Tritt ihre Erinnerung hervorgerufen wird. Noch ein Wort über Anordnung und Ausstattung! Die Geschichte eines Künstlers ist vor allem die Geschichte seiner Werke, und es kostet nicht die wenigste Mühe, die letzteren zu placiren, wo äussere Zeugnisse im Stich lassen. In unserm Fall sind wir nicht so glücklich daran wie etwa bei Rembrandt oder Ribera, aber auch nicht so rathlos wie bei Murillo. Die grossen Wandlungen der Malweise stehen fest. Aber mit Gewalt alle Bilder auf Jahr und Monat datiren wollen, würde zu Selbsttäuschungen führen. Wie selten (man möchte sagen, nur zufällig) bestätigen nachfolgende äussere Aufschlüsse die Deduction! Eine Gruppe von Erscheinungen nimmt bei anhaltender Beschäftigung unwillkürlich eine gewisse Verkettung im Innern an, und man fühlt sich zuletzt seiner Sache so gewiss, als habe man dem Mann

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/40>, abgerufen am 29.03.2024.