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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Sevilla.
ein, und diese bedeutungslosen Dinge erhalten die magische Kraft,
jenes Erlebniss und den damaligen seelischen Zustand herauf-
zubeschwören.

Jenes wissenschaftliche und dieses associative Interesse ste-
hen sogar oft in umgekehrtem Verhältniss. Je grösser ein Mensch
gewesen, je weiter die Verbreitungskreise sind, welche das letz-
tere Interesse um ihn beschreibt, desto weniger ist er ein Pro-
dukt seiner Umgebung. Wir sagen, wenn wir seinen Namen
nennen: die Zeit nannte ihn Colombo, Raphael, Shakespeare, und
geben damit zu verstehen, dass das Zeiträumliche Nebensache
ist. Gleichwol ist jener Cultus der Zufälligkeiten vollkommen
berechtigt. So weiht die Kirche dem Vater ihres Stifters
Tempel und veranstaltet Pilgerfahrten nach dem heiligen Grab,
obwol sie glaubt, dass der Heiland vom Himmel gekommen und
dahin zurückgekehrt sei.

In dem folgenden Abschnitt dieses Buchs soll also von
der Stadt Sevilla und ihrer Gesellschaft, von den Wechseln des
Geschmackes vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert,
von den Künstlern die im Beginn des letztern den Ton angaben,
die Rede sein. Wäre dies alles so bekannt, und soviel darüber
geschrieben worden wie z. B. über Florenz, so würde dieser
Theil ungeschrieben geblieben sein. Aber in der Lebensgeschichte
unseres Malers müssen eine Menge Dinge und Personen genannt
werden, mit denen wenige Leser eine deutliche Vorstellung ver-
binden würden, und es wäre unhöflich ihnen zuzumuthen, sich eine
kleine Bibliothek zu leihen oder zu kaufen. Ein gutes Buch sollte
nichts sagen als das was aus ihm selbst klar und deutlich ist.

Was Sevilla in früheren Tagen gewesen, das braucht man
bis jetzt noch nicht bloss in Archiven auszugraben, oder aus Ruinen
zu ahnen. Noch steht der Minaret des Jaber und der Orangen-
hof der Moschee mit der puerta del perdon; der Alcazar Don Pe-
dros mit seinem Garten, der noch heute als königliches Haus dient,
wie der Palatin zur Zeit der Ottonen; und die Kathedrale, welche
die Domherrn während einer Sedisvacanz zu errichten beschlossen
hatten, nach der Sage in einer Art babylonischer Aufwallung:
"Lasset uns eine Kirche bauen, so gross dass uns die Nachwelt für
Narren halten soll"1). Diess ist jedenfalls gut erfunden, andalusisch
und von echt spanischem Humor im Ausdruck. Es ist ein Bau
ohne Baumeister und Erbauer, ein Werk vieler Geschlechter

1) A. Ponz, Viage en Espanna IX, 3.

Sevilla.
ein, und diese bedeutungslosen Dinge erhalten die magische Kraft,
jenes Erlebniss und den damaligen seelischen Zustand herauf-
zubeschwören.

Jenes wissenschaftliche und dieses associative Interesse ste-
hen sogar oft in umgekehrtem Verhältniss. Je grösser ein Mensch
gewesen, je weiter die Verbreitungskreise sind, welche das letz-
tere Interesse um ihn beschreibt, desto weniger ist er ein Pro-
dukt seiner Umgebung. Wir sagen, wenn wir seinen Namen
nennen: die Zeit nannte ihn Colombo, Raphael, Shakespeare, und
geben damit zu verstehen, dass das Zeiträumliche Nebensache
ist. Gleichwol ist jener Cultus der Zufälligkeiten vollkommen
berechtigt. So weiht die Kirche dem Vater ihres Stifters
Tempel und veranstaltet Pilgerfahrten nach dem heiligen Grab,
obwol sie glaubt, dass der Heiland vom Himmel gekommen und
dahin zurückgekehrt sei.

In dem folgenden Abschnitt dieses Buchs soll also von
der Stadt Sevilla und ihrer Gesellschaft, von den Wechseln des
Geschmackes vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert,
von den Künstlern die im Beginn des letztern den Ton angaben,
die Rede sein. Wäre dies alles so bekannt, und soviel darüber
geschrieben worden wie z. B. über Florenz, so würde dieser
Theil ungeschrieben geblieben sein. Aber in der Lebensgeschichte
unseres Malers müssen eine Menge Dinge und Personen genannt
werden, mit denen wenige Leser eine deutliche Vorstellung ver-
binden würden, und es wäre unhöflich ihnen zuzumuthen, sich eine
kleine Bibliothek zu leihen oder zu kaufen. Ein gutes Buch sollte
nichts sagen als das was aus ihm selbst klar und deutlich ist.

Was Sevilla in früheren Tagen gewesen, das braucht man
bis jetzt noch nicht bloss in Archiven auszugraben, oder aus Ruinen
zu ahnen. Noch steht der Minaret des Jaber und der Orangen-
hof der Moschee mit der puerta del perdon; der Alcazar Don Pe-
dros mit seinem Garten, der noch heute als königliches Haus dient,
wie der Palatin zur Zeit der Ottonen; und die Kathedrale, welche
die Domherrn während einer Sedisvacanz zu errichten beschlossen
hatten, nach der Sage in einer Art babylonischer Aufwallung:
„Lasset uns eine Kirche bauen, so gross dass uns die Nachwelt für
Narren halten soll“1). Diess ist jedenfalls gut erfunden, andalusisch
und von echt spanischem Humor im Ausdruck. Es ist ein Bau
ohne Baumeister und Erbauer, ein Werk vieler Geschlechter

1) A. Ponz, Viage en España IX, 3.
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[23/0043] Sevilla. ein, und diese bedeutungslosen Dinge erhalten die magische Kraft, jenes Erlebniss und den damaligen seelischen Zustand herauf- zubeschwören. Jenes wissenschaftliche und dieses associative Interesse ste- hen sogar oft in umgekehrtem Verhältniss. Je grösser ein Mensch gewesen, je weiter die Verbreitungskreise sind, welche das letz- tere Interesse um ihn beschreibt, desto weniger ist er ein Pro- dukt seiner Umgebung. Wir sagen, wenn wir seinen Namen nennen: die Zeit nannte ihn Colombo, Raphael, Shakespeare, und geben damit zu verstehen, dass das Zeiträumliche Nebensache ist. Gleichwol ist jener Cultus der Zufälligkeiten vollkommen berechtigt. So weiht die Kirche dem Vater ihres Stifters Tempel und veranstaltet Pilgerfahrten nach dem heiligen Grab, obwol sie glaubt, dass der Heiland vom Himmel gekommen und dahin zurückgekehrt sei. In dem folgenden Abschnitt dieses Buchs soll also von der Stadt Sevilla und ihrer Gesellschaft, von den Wechseln des Geschmackes vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert, von den Künstlern die im Beginn des letztern den Ton angaben, die Rede sein. Wäre dies alles so bekannt, und soviel darüber geschrieben worden wie z. B. über Florenz, so würde dieser Theil ungeschrieben geblieben sein. Aber in der Lebensgeschichte unseres Malers müssen eine Menge Dinge und Personen genannt werden, mit denen wenige Leser eine deutliche Vorstellung ver- binden würden, und es wäre unhöflich ihnen zuzumuthen, sich eine kleine Bibliothek zu leihen oder zu kaufen. Ein gutes Buch sollte nichts sagen als das was aus ihm selbst klar und deutlich ist. Was Sevilla in früheren Tagen gewesen, das braucht man bis jetzt noch nicht bloss in Archiven auszugraben, oder aus Ruinen zu ahnen. Noch steht der Minaret des Jaber und der Orangen- hof der Moschee mit der puerta del perdon; der Alcazar Don Pe- dros mit seinem Garten, der noch heute als königliches Haus dient, wie der Palatin zur Zeit der Ottonen; und die Kathedrale, welche die Domherrn während einer Sedisvacanz zu errichten beschlossen hatten, nach der Sage in einer Art babylonischer Aufwallung: „Lasset uns eine Kirche bauen, so gross dass uns die Nachwelt für Narren halten soll“ 1). Diess ist jedenfalls gut erfunden, andalusisch und von echt spanischem Humor im Ausdruck. Es ist ein Bau ohne Baumeister und Erbauer, ein Werk vieler Geschlechter 1) A. Ponz, Viage en España IX, 3.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/43>, abgerufen am 24.04.2024.