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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Venezianische Malerei.
gewesen; die Sevillaner begegneten sich mit den Lehren des Lom-
barden Michelangelo Amerighi; die ersten welche mitten in der
Herrschaft des Romanismus zum Herzen ihrer Landsleute sprachen,
gingen von Venedig aus.

Die Beziehungen des Malers von Cadore zu Kaiser Karl
und seinem Sohn (seit 1530) hatten eine Anzahl von Meisterwerken
nach der Residenz gebracht; Philipp suchte auch Paul Veronese
für San Lorenzo zu gewinnen. Die kirchlichen Stücke Tizians
im Escorial konnten auf die in jene Oede gebannte Malergesell-
schaft nicht ohne Wirkung bleiben. Fast gleichzeitig mit Tizians
Ableben, im Jahre 1575 ist in Spanien, an zwei unabhängigen
Punkten, zuerst venezianisch gemalt worden.

Der berufenste Maler unter den Einheimischen der Escorial-
colonie war der Navarrer Juan Fernandez Navarrete aus Logronno
(geb. um 1526), wegen seiner früh entwickelten Taubheit "der
Stumme" genannt. Wie jene andalusischen Romanisten hatte er
die beste Zeit seines Lebens in Italien und Rom verbracht; das
Bildchen, welches er Philipp II als Probe seiner Geschicklichkeit
überreichte, die feine, hell und kühl gemalte Taufe Christi (Prado
905) ist ganz "raphaelsche Schule", oder, wenn man lieber will,
Julio Romano. Der König liess ihn nun (seit 1569) eine Reihe
grosser Bilder für S. Lorenzo malen: plastisch gedachte Einzel-
figuren, meist in strenger Zeichnung und Modellirung, mit wol-
durchdachten Attitüden und Verkürzungen, mager impastirt,
hart und kalt wie die Natur seiner Berge. Aber die dort ein-
treffenden Werke des alten Tizian, das Abendmahl, der heil.
Laurentius, erregten die schlummernde koloristische Ader. Wäh-
rend er im Santiago, im heil. Hieronymus (1570) dem Michelangelo
nachstrebt, in der heiligen Familie (im oberen Claustro) den
Zuccaro (nach C. Cort) benutzt, überrascht er in der Geisselung
durch ein Passionsstück in der Art der Mailänder Dornenkrönung,
und die Bestattung des heil. Laurentius ist ein Nachklang des
berühmten Nachtstückes in der Jesuitenkirche zu Venedig und im
Escorial. Obwol bereits nahe an den Fünfzigen, hatte er sein
mühsam errungenes System aufgegeben; er führte nun den
Pinsel, als hätte er das Atelier im Biri grande besucht. Diese
Wandlung ist am auffälligsten in den sechs Apostelpaaren, mit
bergigen Landschaften, welche er für die Seitenaltäre der
Escorialkirche malte (1575--78). Philipp II sah sich im Besitz
eines Vasallen, der mehr Maler war als die mit schwerem Gold

Venezianische Malerei.
gewesen; die Sevillaner begegneten sich mit den Lehren des Lom-
barden Michelangelo Amerighi; die ersten welche mitten in der
Herrschaft des Romanismus zum Herzen ihrer Landsleute sprachen,
gingen von Venedig aus.

Die Beziehungen des Malers von Cadore zu Kaiser Karl
und seinem Sohn (seit 1530) hatten eine Anzahl von Meisterwerken
nach der Residenz gebracht; Philipp suchte auch Paul Veronese
für San Lorenzo zu gewinnen. Die kirchlichen Stücke Tizians
im Escorial konnten auf die in jene Oede gebannte Malergesell-
schaft nicht ohne Wirkung bleiben. Fast gleichzeitig mit Tizians
Ableben, im Jahre 1575 ist in Spanien, an zwei unabhängigen
Punkten, zuerst venezianisch gemalt worden.

Der berufenste Maler unter den Einheimischen der Escorial-
colonie war der Navarrer Juan Fernandez Navarrete aus Logroño
(geb. um 1526), wegen seiner früh entwickelten Taubheit „der
Stumme“ genannt. Wie jene andalusischen Romanisten hatte er
die beste Zeit seines Lebens in Italien und Rom verbracht; das
Bildchen, welches er Philipp II als Probe seiner Geschicklichkeit
überreichte, die feine, hell und kühl gemalte Taufe Christi (Prado
905) ist ganz „raphaelsche Schule“, oder, wenn man lieber will,
Julio Romano. Der König liess ihn nun (seit 1569) eine Reihe
grosser Bilder für S. Lorenzo malen: plastisch gedachte Einzel-
figuren, meist in strenger Zeichnung und Modellirung, mit wol-
durchdachten Attitüden und Verkürzungen, mager impastirt,
hart und kalt wie die Natur seiner Berge. Aber die dort ein-
treffenden Werke des alten Tizian, das Abendmahl, der heil.
Laurentius, erregten die schlummernde koloristische Ader. Wäh-
rend er im Santiago, im heil. Hieronymus (1570) dem Michelangelo
nachstrebt, in der heiligen Familie (im oberen Claustro) den
Zuccaro (nach C. Cort) benutzt, überrascht er in der Geisselung
durch ein Passionsstück in der Art der Mailänder Dornenkrönung,
und die Bestattung des heil. Laurentius ist ein Nachklang des
berühmten Nachtstückes in der Jesuitenkirche zu Venedig und im
Escorial. Obwol bereits nahe an den Fünfzigen, hatte er sein
mühsam errungenes System aufgegeben; er führte nun den
Pinsel, als hätte er das Atelier im Biri grande besucht. Diese
Wandlung ist am auffälligsten in den sechs Apostelpaaren, mit
bergigen Landschaften, welche er für die Seitenaltäre der
Escorialkirche malte (1575—78). Philipp II sah sich im Besitz
eines Vasallen, der mehr Maler war als die mit schwerem Gold

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[75/0095] Venezianische Malerei. gewesen; die Sevillaner begegneten sich mit den Lehren des Lom- barden Michelangelo Amerighi; die ersten welche mitten in der Herrschaft des Romanismus zum Herzen ihrer Landsleute sprachen, gingen von Venedig aus. Die Beziehungen des Malers von Cadore zu Kaiser Karl und seinem Sohn (seit 1530) hatten eine Anzahl von Meisterwerken nach der Residenz gebracht; Philipp suchte auch Paul Veronese für San Lorenzo zu gewinnen. Die kirchlichen Stücke Tizians im Escorial konnten auf die in jene Oede gebannte Malergesell- schaft nicht ohne Wirkung bleiben. Fast gleichzeitig mit Tizians Ableben, im Jahre 1575 ist in Spanien, an zwei unabhängigen Punkten, zuerst venezianisch gemalt worden. Der berufenste Maler unter den Einheimischen der Escorial- colonie war der Navarrer Juan Fernandez Navarrete aus Logroño (geb. um 1526), wegen seiner früh entwickelten Taubheit „der Stumme“ genannt. Wie jene andalusischen Romanisten hatte er die beste Zeit seines Lebens in Italien und Rom verbracht; das Bildchen, welches er Philipp II als Probe seiner Geschicklichkeit überreichte, die feine, hell und kühl gemalte Taufe Christi (Prado 905) ist ganz „raphaelsche Schule“, oder, wenn man lieber will, Julio Romano. Der König liess ihn nun (seit 1569) eine Reihe grosser Bilder für S. Lorenzo malen: plastisch gedachte Einzel- figuren, meist in strenger Zeichnung und Modellirung, mit wol- durchdachten Attitüden und Verkürzungen, mager impastirt, hart und kalt wie die Natur seiner Berge. Aber die dort ein- treffenden Werke des alten Tizian, das Abendmahl, der heil. Laurentius, erregten die schlummernde koloristische Ader. Wäh- rend er im Santiago, im heil. Hieronymus (1570) dem Michelangelo nachstrebt, in der heiligen Familie (im oberen Claustro) den Zuccaro (nach C. Cort) benutzt, überrascht er in der Geisselung durch ein Passionsstück in der Art der Mailänder Dornenkrönung, und die Bestattung des heil. Laurentius ist ein Nachklang des berühmten Nachtstückes in der Jesuitenkirche zu Venedig und im Escorial. Obwol bereits nahe an den Fünfzigen, hatte er sein mühsam errungenes System aufgegeben; er führte nun den Pinsel, als hätte er das Atelier im Biri grande besucht. Diese Wandlung ist am auffälligsten in den sechs Apostelpaaren, mit bergigen Landschaften, welche er für die Seitenaltäre der Escorialkirche malte (1575—78). Philipp II sah sich im Besitz eines Vasallen, der mehr Maler war als die mit schwerem Gold

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/95>, abgerufen am 24.04.2024.