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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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der reinen practischen Vernunft.
als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.
Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjectiv-
practische Principien, d. i. Maximen, entweder gar nicht
zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muß an-
nehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene
sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für
sich allein zum practischen Gesetze mache.

Anmerkung.

Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetz-
gebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand
ohne Unterweisung unterscheiden. Ich habe z. B. es mir zur
Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel
zu vergrößern. Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen,
dessen Eigenthümer verstorben ist und keine Handschrift dar-
über zurückgelassen hat. Natürlicherweise ist dies der Fall
meiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime
auch als allgemeines practisches Gesetz gelten könne. Ich
wende jene also auf gegenwärtigen Fall an, und frage, ob sie
wol die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wol
durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte:
daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Nieder-
legung ihm niemand beweisen kann. Ich werde sofort gewahr,
daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten wür-
de, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.
Ein practisches Gesetz, was ich dafür erkenne, muß sich zur
allgemeinen Gesetzgebung qualificiren; dies ist ein identischer
Satz und also für sich klar. Sage ich nun, mein Wille steht
unter einem practischen Gesetze, so kann ich nicht meine Nei-
gung (z. B. im gegenwärtigen Falle meine Habsucht) als den
zu einem allgemeinen practischen Gesetze schicklichen Bestim-

mungs-
Kants Crit. d. pract. Vern. D

der reinen practiſchen Vernunft.
als die bloße Form einer allgemeinen Geſetzgebung.
Alſo kann ein vernuͤnftiges Weſen ſich ſeine ſubjectiv-
practiſche Principien, d. i. Maximen, entweder gar nicht
zugleich als allgemeine Geſetze denken, oder es muß an-
nehmen, daß die bloße Form derſelben, nach der jene
ſich zur allgemeinen Geſetzgebung ſchicken, ſie fuͤr
ſich allein zum practiſchen Geſetze mache.

Anmerkung.

Welche Form in der Maxime ſich zur allgemeinen Geſetz-
gebung ſchicke, welche nicht, das kann der gemeinſte Verſtand
ohne Unterweiſung unterſcheiden. Ich habe z. B. es mir zur
Maxime gemacht, mein Vermoͤgen durch alle ſichere Mittel
zu vergroͤßern. Jetzt iſt ein Depoſitum in meinen Haͤnden,
deſſen Eigenthuͤmer verſtorben iſt und keine Handſchrift dar-
uͤber zuruͤckgelaſſen hat. Natuͤrlicherweiſe iſt dies der Fall
meiner Maxime. Jetzt will ich nur wiſſen, ob jene Maxime
auch als allgemeines practiſches Geſetz gelten koͤnne. Ich
wende jene alſo auf gegenwaͤrtigen Fall an, und frage, ob ſie
wol die Form eines Geſetzes annehmen, mithin ich wol
durch meine Maxime zugleich ein ſolches Geſetz geben koͤnnte:
daß jedermann ein Depoſitum ableugnen duͤrfe, deſſen Nieder-
legung ihm niemand beweiſen kann. Ich werde ſofort gewahr,
daß ein ſolches Princip, als Geſetz, ſich ſelbſt vernichten wuͤr-
de, weil es machen wuͤrde, daß es gar kein Depoſitum gaͤbe.
Ein practiſches Geſetz, was ich dafuͤr erkenne, muß ſich zur
allgemeinen Geſetzgebung qualificiren; dies iſt ein identiſcher
Satz und alſo fuͤr ſich klar. Sage ich nun, mein Wille ſteht
unter einem practiſchen Geſetze, ſo kann ich nicht meine Nei-
gung (z. B. im gegenwaͤrtigen Falle meine Habſucht) als den
zu einem allgemeinen practiſchen Geſetze ſchicklichen Beſtim-

mungs-
Kants Crit. d. pract. Vern. D
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[49/0057] der reinen practiſchen Vernunft. als die bloße Form einer allgemeinen Geſetzgebung. Alſo kann ein vernuͤnftiges Weſen ſich ſeine ſubjectiv- practiſche Principien, d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich als allgemeine Geſetze denken, oder es muß an- nehmen, daß die bloße Form derſelben, nach der jene ſich zur allgemeinen Geſetzgebung ſchicken, ſie fuͤr ſich allein zum practiſchen Geſetze mache. Anmerkung. Welche Form in der Maxime ſich zur allgemeinen Geſetz- gebung ſchicke, welche nicht, das kann der gemeinſte Verſtand ohne Unterweiſung unterſcheiden. Ich habe z. B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermoͤgen durch alle ſichere Mittel zu vergroͤßern. Jetzt iſt ein Depoſitum in meinen Haͤnden, deſſen Eigenthuͤmer verſtorben iſt und keine Handſchrift dar- uͤber zuruͤckgelaſſen hat. Natuͤrlicherweiſe iſt dies der Fall meiner Maxime. Jetzt will ich nur wiſſen, ob jene Maxime auch als allgemeines practiſches Geſetz gelten koͤnne. Ich wende jene alſo auf gegenwaͤrtigen Fall an, und frage, ob ſie wol die Form eines Geſetzes annehmen, mithin ich wol durch meine Maxime zugleich ein ſolches Geſetz geben koͤnnte: daß jedermann ein Depoſitum ableugnen duͤrfe, deſſen Nieder- legung ihm niemand beweiſen kann. Ich werde ſofort gewahr, daß ein ſolches Princip, als Geſetz, ſich ſelbſt vernichten wuͤr- de, weil es machen wuͤrde, daß es gar kein Depoſitum gaͤbe. Ein practiſches Geſetz, was ich dafuͤr erkenne, muß ſich zur allgemeinen Geſetzgebung qualificiren; dies iſt ein identiſcher Satz und alſo fuͤr ſich klar. Sage ich nun, mein Wille ſteht unter einem practiſchen Geſetze, ſo kann ich nicht meine Nei- gung (z. B. im gegenwaͤrtigen Falle meine Habſucht) als den zu einem allgemeinen practiſchen Geſetze ſchicklichen Beſtim- mungs- Kants Crit. d. pract. Vern. D

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/57>, abgerufen am 24.04.2024.