Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. I. B. I. Hauptst. Von den Grundsätzen
keiten verwickelt, indessen daß doch der letztere (Mechanism)
wenigstens Brauchbarkeit in Erklärung der Erscheinungen hat,
man niemals zu dem Wagstücke gekommen seyn würde,
Freyheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sit-
tengesetz und mit ihm practische Vernunft dazu gekommen
und hatte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch
die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns.
Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt,
sie sey, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit
dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich, ob, wenn ein
Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufge-
richtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran
zu knüpfen, er alsdenn nicht seine Neigung bezwingen würde.
Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt
ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung dersel-
ben unverzögerten Todesstrafe, zumuthete, ein falsches Zeug-
niß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren
Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß
auch seine Liebe zum Leben seyn mag, sie wol zu überwinden
für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er
vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber
möglich sey, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilet
also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß
er es soll, und erkennt in sich die Freyheit, die ihm sonst ohne
das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.

§. 7.
Grundgesetz der reinen practischen Vernunft.

Handle so, daß die Maxime deines Willens jeder-
zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne.

Anmer-

I. Th. I. B. I. Hauptſt. Von den Grundſaͤtzen
keiten verwickelt, indeſſen daß doch der letztere (Mechanism)
wenigſtens Brauchbarkeit in Erklaͤrung der Erſcheinungen hat,
man niemals zu dem Wagſtuͤcke gekommen ſeyn wuͤrde,
Freyheit in die Wiſſenſchaft einzufuͤhren, waͤre nicht das Sit-
tengeſetz und mit ihm practiſche Vernunft dazu gekommen
und hatte uns dieſen Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch
die Erfahrung beſtaͤtigt dieſe Ordnung der Begriffe in uns.
Setzet, daß jemand von ſeiner wolluͤſtigen Neigung vorgiebt,
ſie ſey, wenn ihm der beliebte Gegenſtand und die Gelegenheit
dazu vorkaͤmen, fuͤr ihn ganz unwiderſtehlich, ob, wenn ein
Galgen vor dem Hauſe, da er dieſe Gelegenheit trifft, aufge-
richtet waͤre, um ihn ſogleich nach genoſſener Wolluſt daran
zu knuͤpfen, er alsdenn nicht ſeine Neigung bezwingen wuͤrde.
Man darf nicht lange rathen, was er antworten wuͤrde. Fragt
ihn aber, ob, wenn ſein Fuͤrſt ihm, unter Androhung derſel-
ben unverzoͤgerten Todesſtrafe, zumuthete, ein falſches Zeug-
niß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter ſcheinbaren
Vorwaͤnden verderben moͤchte, abzulegen, ob er da, ſo groß
auch ſeine Liebe zum Leben ſeyn mag, ſie wol zu uͤberwinden
fuͤr moͤglich halte. Ob er es thun wuͤrde, oder nicht, wird er
vielleicht ſich nicht getrauen zu verſichern; daß es ihm aber
moͤglich ſey, muß er ohne Bedenken einraͤumen. Er urtheilet
alſo, daß er etwas kann, darum weil er ſich bewußt iſt, daß
er es ſoll, und erkennt in ſich die Freyheit, die ihm ſonſt ohne
das moraliſche Geſetz unbekannt geblieben waͤre.

§. 7.
Grundgeſetz der reinen practiſchen Vernunft.

Handle ſo, daß die Maxime deines Willens jeder-
zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Geſetzgebung
gelten koͤnne.

Anmer-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0062" n="54"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> B. <hi rendition="#aq">I.</hi> Haupt&#x017F;t. Von den Grund&#x017F;a&#x0364;tzen</fw><lb/>
keiten verwickelt, inde&#x017F;&#x017F;en daß doch der letztere (Mechanism)<lb/>
wenig&#x017F;tens Brauchbarkeit in Erkla&#x0364;rung der Er&#x017F;cheinungen hat,<lb/>
man niemals zu dem Wag&#x017F;tu&#x0364;cke gekommen &#x017F;eyn wu&#x0364;rde,<lb/>
Freyheit in die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft einzufu&#x0364;hren, wa&#x0364;re nicht das Sit-<lb/>
tenge&#x017F;etz und mit ihm practi&#x017F;che Vernunft dazu gekommen<lb/>
und hatte uns die&#x017F;en Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch<lb/>
die Erfahrung be&#x017F;ta&#x0364;tigt die&#x017F;e Ordnung der Begriffe in uns.<lb/>
Setzet, daß jemand von &#x017F;einer wollu&#x0364;&#x017F;tigen Neigung vorgiebt,<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ey, wenn ihm der beliebte Gegen&#x017F;tand und die Gelegenheit<lb/>
dazu vorka&#x0364;men, fu&#x0364;r ihn ganz unwider&#x017F;tehlich, ob, wenn ein<lb/>
Galgen vor dem Hau&#x017F;e, da er die&#x017F;e Gelegenheit trifft, aufge-<lb/>
richtet wa&#x0364;re, um ihn &#x017F;ogleich nach geno&#x017F;&#x017F;ener Wollu&#x017F;t daran<lb/>
zu knu&#x0364;pfen, er alsdenn nicht &#x017F;eine Neigung bezwingen wu&#x0364;rde.<lb/>
Man darf nicht lange rathen, was er antworten wu&#x0364;rde. Fragt<lb/>
ihn aber, ob, wenn &#x017F;ein Fu&#x0364;r&#x017F;t ihm, unter Androhung der&#x017F;el-<lb/>
ben unverzo&#x0364;gerten Todes&#x017F;trafe, zumuthete, ein fal&#x017F;ches Zeug-<lb/>
niß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter &#x017F;cheinbaren<lb/>
Vorwa&#x0364;nden verderben mo&#x0364;chte, abzulegen, ob er da, &#x017F;o groß<lb/>
auch &#x017F;eine Liebe zum Leben &#x017F;eyn mag, &#x017F;ie wol zu u&#x0364;berwinden<lb/>
fu&#x0364;r mo&#x0364;glich halte. Ob er es thun wu&#x0364;rde, oder nicht, wird er<lb/>
vielleicht &#x017F;ich nicht getrauen zu ver&#x017F;ichern; daß es ihm aber<lb/>
mo&#x0364;glich &#x017F;ey, muß er ohne Bedenken einra&#x0364;umen. Er urtheilet<lb/>
al&#x017F;o, daß er etwas kann, darum weil er &#x017F;ich bewußt i&#x017F;t, daß<lb/>
er es &#x017F;oll, und erkennt in &#x017F;ich die Freyheit, die ihm &#x017F;on&#x017F;t ohne<lb/>
das morali&#x017F;che Ge&#x017F;etz unbekannt geblieben wa&#x0364;re.</p>
              </div>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">§. 7.<lb/>
Grundge&#x017F;etz der reinen practi&#x017F;chen Vernunft.</hi> </head><lb/>
              <p>Handle &#x017F;o, daß die Maxime deines Willens jeder-<lb/>
zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Ge&#x017F;etzgebung<lb/>
gelten ko&#x0364;nne.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Anmer-</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0062] I. Th. I. B. I. Hauptſt. Von den Grundſaͤtzen keiten verwickelt, indeſſen daß doch der letztere (Mechanism) wenigſtens Brauchbarkeit in Erklaͤrung der Erſcheinungen hat, man niemals zu dem Wagſtuͤcke gekommen ſeyn wuͤrde, Freyheit in die Wiſſenſchaft einzufuͤhren, waͤre nicht das Sit- tengeſetz und mit ihm practiſche Vernunft dazu gekommen und hatte uns dieſen Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch die Erfahrung beſtaͤtigt dieſe Ordnung der Begriffe in uns. Setzet, daß jemand von ſeiner wolluͤſtigen Neigung vorgiebt, ſie ſey, wenn ihm der beliebte Gegenſtand und die Gelegenheit dazu vorkaͤmen, fuͤr ihn ganz unwiderſtehlich, ob, wenn ein Galgen vor dem Hauſe, da er dieſe Gelegenheit trifft, aufge- richtet waͤre, um ihn ſogleich nach genoſſener Wolluſt daran zu knuͤpfen, er alsdenn nicht ſeine Neigung bezwingen wuͤrde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten wuͤrde. Fragt ihn aber, ob, wenn ſein Fuͤrſt ihm, unter Androhung derſel- ben unverzoͤgerten Todesſtrafe, zumuthete, ein falſches Zeug- niß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter ſcheinbaren Vorwaͤnden verderben moͤchte, abzulegen, ob er da, ſo groß auch ſeine Liebe zum Leben ſeyn mag, ſie wol zu uͤberwinden fuͤr moͤglich halte. Ob er es thun wuͤrde, oder nicht, wird er vielleicht ſich nicht getrauen zu verſichern; daß es ihm aber moͤglich ſey, muß er ohne Bedenken einraͤumen. Er urtheilet alſo, daß er etwas kann, darum weil er ſich bewußt iſt, daß er es ſoll, und erkennt in ſich die Freyheit, die ihm ſonſt ohne das moraliſche Geſetz unbekannt geblieben waͤre. §. 7. Grundgeſetz der reinen practiſchen Vernunft. Handle ſo, daß die Maxime deines Willens jeder- zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Geſetzgebung gelten koͤnne. Anmer-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/62
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/62>, abgerufen am 20.04.2024.