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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Einleitung.
B.
Vom logischen Gebrauche der Vernunft.

Man macht einen Unterschied zwischen dem, was un-
mittelbar erkant, und dem, was nur geschlossen wird.
Daß in einer Figur, die durch drey gerade Linien begränzt
ist, drey Winkel sind, wird unmittelbar erkant, daß die:
se Winkel aber zusammen zween rechten gleich sind, ist
nur geschlossen. Weil wir des Schliessens beständig bedür-
fen und es dadurch endlich ganz gewohnt werden, so be-
merken wir zuletzt diesen Unterschied nicht mehr, und hal-
ten oft, wie bey dem sogenannten Betruge der Sinne, et-
was vor unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur ge-
schlossen haben. Bey iedem Schlusse ist ein Satz, der zum
Grunde liegt, ein andrer, nemlich die Folgerung die aus
ienem gezogen wird, endlich die Schlußfolge (Consequenz),
nach welcher die Wahrheit des lezteren unausbleiblich mit
der Wahrheit des ersteren verknüpft ist. Liegt das ge-
schlossene Urtheil schon so in dem ersten, daß es ohne Ver-
mittelung einer dritten Vorstellung daraus abgeleitet wer-
den kan, so heißt der Schluß unmittelbar (consequentia
immediata);
ich möchte ihn lieber den Verstandesschluß
nennen. Ist aber, ausser der zum Grunde gelegten Er-
kentniß, noch ein anderes Urtheil nöthig, um die Folge
zu bewirken, so heißt der Schluß ein Vernunftschluß. In
dem Satze: alle Menschen sind sterblich, liegen schon die
Sätze: einige Menschen sind sterblich, oder: einige Sterb-
liche sind Menschen, oder: nichts, was unsterblich ist, ist

ein
Einleitung.
B.
Vom logiſchen Gebrauche der Vernunft.

Man macht einen Unterſchied zwiſchen dem, was un-
mittelbar erkant, und dem, was nur geſchloſſen wird.
Daß in einer Figur, die durch drey gerade Linien begraͤnzt
iſt, drey Winkel ſind, wird unmittelbar erkant, daß die:
ſe Winkel aber zuſammen zween rechten gleich ſind, iſt
nur geſchloſſen. Weil wir des Schlieſſens beſtaͤndig beduͤr-
fen und es dadurch endlich ganz gewohnt werden, ſo be-
merken wir zuletzt dieſen Unterſchied nicht mehr, und hal-
ten oft, wie bey dem ſogenannten Betruge der Sinne, et-
was vor unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur ge-
ſchloſſen haben. Bey iedem Schluſſe iſt ein Satz, der zum
Grunde liegt, ein andrer, nemlich die Folgerung die aus
ienem gezogen wird, endlich die Schlußfolge (Conſequenz),
nach welcher die Wahrheit des lezteren unausbleiblich mit
der Wahrheit des erſteren verknuͤpft iſt. Liegt das ge-
ſchloſſene Urtheil ſchon ſo in dem erſten, daß es ohne Ver-
mittelung einer dritten Vorſtellung daraus abgeleitet wer-
den kan, ſo heißt der Schluß unmittelbar (conſequentia
immediata);
ich moͤchte ihn lieber den Verſtandesſchluß
nennen. Iſt aber, auſſer der zum Grunde gelegten Er-
kentniß, noch ein anderes Urtheil noͤthig, um die Folge
zu bewirken, ſo heißt der Schluß ein Vernunftſchluß. In
dem Satze: alle Menſchen ſind ſterblich, liegen ſchon die
Saͤtze: einige Menſchen ſind ſterblich, oder: einige Sterb-
liche ſind Menſchen, oder: nichts, was unſterblich iſt, iſt

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[303/0333] Einleitung. B. Vom logiſchen Gebrauche der Vernunft. Man macht einen Unterſchied zwiſchen dem, was un- mittelbar erkant, und dem, was nur geſchloſſen wird. Daß in einer Figur, die durch drey gerade Linien begraͤnzt iſt, drey Winkel ſind, wird unmittelbar erkant, daß die: ſe Winkel aber zuſammen zween rechten gleich ſind, iſt nur geſchloſſen. Weil wir des Schlieſſens beſtaͤndig beduͤr- fen und es dadurch endlich ganz gewohnt werden, ſo be- merken wir zuletzt dieſen Unterſchied nicht mehr, und hal- ten oft, wie bey dem ſogenannten Betruge der Sinne, et- was vor unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur ge- ſchloſſen haben. Bey iedem Schluſſe iſt ein Satz, der zum Grunde liegt, ein andrer, nemlich die Folgerung die aus ienem gezogen wird, endlich die Schlußfolge (Conſequenz), nach welcher die Wahrheit des lezteren unausbleiblich mit der Wahrheit des erſteren verknuͤpft iſt. Liegt das ge- ſchloſſene Urtheil ſchon ſo in dem erſten, daß es ohne Ver- mittelung einer dritten Vorſtellung daraus abgeleitet wer- den kan, ſo heißt der Schluß unmittelbar (conſequentia immediata); ich moͤchte ihn lieber den Verſtandesſchluß nennen. Iſt aber, auſſer der zum Grunde gelegten Er- kentniß, noch ein anderes Urtheil noͤthig, um die Folge zu bewirken, ſo heißt der Schluß ein Vernunftſchluß. In dem Satze: alle Menſchen ſind ſterblich, liegen ſchon die Saͤtze: einige Menſchen ſind ſterblich, oder: einige Sterb- liche ſind Menſchen, oder: nichts, was unſterblich iſt, iſt ein

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/333>, abgerufen am 19.04.2024.