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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Elementarl. II. Th. I. Abth. II. Buch.

Wenn wir denn also sagen: die Sinne stellen uns
die Gegenstände vor, wie sie erscheinen, der Ver-
stand aber, wie sie sind, so ist das leztere nicht in trans-
scendentaler, sondern blos empirischer Bedeutung zu neh-
men, nemlich, wie sie als Gegenstände der Erfahrung,
im durchgängigen Zusammenhange der Erscheinun-
gen, müssen vorgestellt werden, und nicht nach dem,
was sie, ausser der Beziehung auf mögliche Erfahrung,
und folglich auf Sinne überhaupt, mithin als Gegenstände
des reinen Verstandes seyn mögen. Denn dieses wird uns
immer unbekant bleiben, so gar, daß es auch unbekant
bleibt, ob eine solche transscendentale (ausserordentliche)
Erkentniß überall möglich sey, zum wenigsten als eine solche,
die unter unseren gewöhnlichen Categorien steht. Ver-
stand und Sinnlichkeit können bey uns nur in Verbin-
dung Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen,
so haben wir Anschauungen ohne Begriffe, oder Begriffe
ohne Anschauungen, in beiden Fällen aber Vorstellungen,
die wir auf keinen bestimten Gegenstand beziehen können.

Wenn iemand noch Bedenken trägt, auf alle diese
Erörterungen, dem blos transscendentalen Gebrauche der
Categorien zu entsagen, so mache er einen Versuch von
ihnen in irgend einer synthetischen Behauptung. Denn
eine analytische bringt den Verstand nicht weiter, und da
er nur mit dem beschäftigt ist, was in dem Begriffe schon
gedacht wird, so läßt er es unausgemacht, ob dieser an sich
selbst auf Gegenstände Beziehung habe, oder nur die Ein-

heit
Elementarl. II. Th. I. Abth. II. Buch.

Wenn wir denn alſo ſagen: die Sinne ſtellen uns
die Gegenſtaͤnde vor, wie ſie erſcheinen, der Ver-
ſtand aber, wie ſie ſind, ſo iſt das leztere nicht in trans-
ſcendentaler, ſondern blos empiriſcher Bedeutung zu neh-
men, nemlich, wie ſie als Gegenſtaͤnde der Erfahrung,
im durchgaͤngigen Zuſammenhange der Erſcheinun-
gen, muͤſſen vorgeſtellt werden, und nicht nach dem,
was ſie, auſſer der Beziehung auf moͤgliche Erfahrung,
und folglich auf Sinne uͤberhaupt, mithin als Gegenſtaͤnde
des reinen Verſtandes ſeyn moͤgen. Denn dieſes wird uns
immer unbekant bleiben, ſo gar, daß es auch unbekant
bleibt, ob eine ſolche transſcendentale (auſſerordentliche)
Erkentniß uͤberall moͤglich ſey, zum wenigſten als eine ſolche,
die unter unſeren gewoͤhnlichen Categorien ſteht. Ver-
ſtand und Sinnlichkeit koͤnnen bey uns nur in Verbin-
dung Gegenſtaͤnde beſtimmen. Wenn wir ſie trennen,
ſo haben wir Anſchauungen ohne Begriffe, oder Begriffe
ohne Anſchauungen, in beiden Faͤllen aber Vorſtellungen,
die wir auf keinen beſtimten Gegenſtand beziehen koͤnnen.

Wenn iemand noch Bedenken traͤgt, auf alle dieſe
Eroͤrterungen, dem blos transſcendentalen Gebrauche der
Categorien zu entſagen, ſo mache er einen Verſuch von
ihnen in irgend einer ſynthetiſchen Behauptung. Denn
eine analytiſche bringt den Verſtand nicht weiter, und da
er nur mit dem beſchaͤftigt iſt, was in dem Begriffe ſchon
gedacht wird, ſo laͤßt er es unausgemacht, ob dieſer an ſich
ſelbſt auf Gegenſtaͤnde Beziehung habe, oder nur die Ein-

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[258/0288] Elementarl. II. Th. I. Abth. II. Buch. Wenn wir denn alſo ſagen: die Sinne ſtellen uns die Gegenſtaͤnde vor, wie ſie erſcheinen, der Ver- ſtand aber, wie ſie ſind, ſo iſt das leztere nicht in trans- ſcendentaler, ſondern blos empiriſcher Bedeutung zu neh- men, nemlich, wie ſie als Gegenſtaͤnde der Erfahrung, im durchgaͤngigen Zuſammenhange der Erſcheinun- gen, muͤſſen vorgeſtellt werden, und nicht nach dem, was ſie, auſſer der Beziehung auf moͤgliche Erfahrung, und folglich auf Sinne uͤberhaupt, mithin als Gegenſtaͤnde des reinen Verſtandes ſeyn moͤgen. Denn dieſes wird uns immer unbekant bleiben, ſo gar, daß es auch unbekant bleibt, ob eine ſolche transſcendentale (auſſerordentliche) Erkentniß uͤberall moͤglich ſey, zum wenigſten als eine ſolche, die unter unſeren gewoͤhnlichen Categorien ſteht. Ver- ſtand und Sinnlichkeit koͤnnen bey uns nur in Verbin- dung Gegenſtaͤnde beſtimmen. Wenn wir ſie trennen, ſo haben wir Anſchauungen ohne Begriffe, oder Begriffe ohne Anſchauungen, in beiden Faͤllen aber Vorſtellungen, die wir auf keinen beſtimten Gegenſtand beziehen koͤnnen. Wenn iemand noch Bedenken traͤgt, auf alle dieſe Eroͤrterungen, dem blos transſcendentalen Gebrauche der Categorien zu entſagen, ſo mache er einen Verſuch von ihnen in irgend einer ſynthetiſchen Behauptung. Denn eine analytiſche bringt den Verſtand nicht weiter, und da er nur mit dem beſchaͤftigt iſt, was in dem Begriffe ſchon gedacht wird, ſo laͤßt er es unausgemacht, ob dieſer an ſich ſelbſt auf Gegenſtaͤnde Beziehung habe, oder nur die Ein- heit

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/288>, abgerufen am 29.03.2024.