Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
ihn mehrerer solcher Lust und Unterhaltung empfänglich
macht, nicht in der Materie der Empfindung (dem
Reitze oder der Rührung), wo es blos auf Genuß ange-
legt ist, welcher nichts in der Jdee zurückläßt, den Geist
stumpf, den Gegenstand aneckelnd und das Gemüth,
durch das Bewustseyn seiner im Urtheile der Vernunft
zweckwidrigen Stimmung, mit sich selbst unzufrieden und
launisch macht.

Wenn die schöne Künste nicht, nahe oder fern, mit
moralischen Jdeen in Verbindung gebracht werden, die
allein ein selbstständiges Wohlgefallen bey sich führen, so
ist das letztere ihr endliches Schicksal. Sie dienen als-
denn nur zur Zerstreuung, deren man immer desto mehr
bedürftig wird, als man sich ihrer bedient, um die Unzu-
friedenheit des Gemüths mit sich selbst dadurch zu ver-
treiben, daß man sich immer noch unnützlicher und mit
sich selbst unzufriedener macht: Ueberhaupt sind die Schön-
heiten der Natur zu der ersteren Absicht am zuträglich-
sten, wenn man frühe dazu gewohnt wird, sie zu beob-
achten, zu beurtheilen und zu bewundern.

§. 53.
Vergleichung des ästhetischen Werths der
schönen Künste untereinander.

Unter allen behauptet die Dichtkunst (die fast
gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt und am
wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beyspiele geleitet

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ihn mehrerer ſolcher Luſt und Unterhaltung empfaͤnglich
macht, nicht in der Materie der Empfindung (dem
Reitze oder der Ruͤhrung), wo es blos auf Genuß ange-
legt iſt, welcher nichts in der Jdee zuruͤcklaͤßt, den Geiſt
ſtumpf, den Gegenſtand aneckelnd und das Gemuͤth,
durch das Bewuſtſeyn ſeiner im Urtheile der Vernunft
zweckwidrigen Stimmung, mit ſich ſelbſt unzufrieden und
launiſch macht.

Wenn die ſchoͤne Kuͤnſte nicht, nahe oder fern, mit
moraliſchen Jdeen in Verbindung gebracht werden, die
allein ein ſelbſtſtaͤndiges Wohlgefallen bey ſich fuͤhren, ſo
iſt das letztere ihr endliches Schickſal. Sie dienen als-
denn nur zur Zerſtreuung, deren man immer deſto mehr
beduͤrftig wird, als man ſich ihrer bedient, um die Unzu-
friedenheit des Gemuͤths mit ſich ſelbſt dadurch zu ver-
treiben, daß man ſich immer noch unnuͤtzlicher und mit
ſich ſelbſt unzufriedener macht: Ueberhaupt ſind die Schoͤn-
heiten der Natur zu der erſteren Abſicht am zutraͤglich-
ſten, wenn man fruͤhe dazu gewohnt wird, ſie zu beob-
achten, zu beurtheilen und zu bewundern.

§. 53.
Vergleichung des aͤſthetiſchen Werths der
ſchoͤnen Kuͤnſte untereinander.

Unter allen behauptet die Dichtkunſt (die faſt
gaͤnzlich dem Genie ihren Urſprung verdankt und am
wenigſten durch Vorſchrift, oder durch Beyſpiele geleitet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0276" n="212"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
ihn mehrerer &#x017F;olcher Lu&#x017F;t und Unterhaltung empfa&#x0364;nglich<lb/>
macht, nicht in der Materie der Empfindung (dem<lb/>
Reitze oder der Ru&#x0364;hrung), wo es blos auf Genuß ange-<lb/>
legt i&#x017F;t, welcher nichts in der Jdee zuru&#x0364;ckla&#x0364;ßt, den Gei&#x017F;t<lb/>
&#x017F;tumpf, den Gegen&#x017F;tand aneckelnd und das Gemu&#x0364;th,<lb/>
durch das Bewu&#x017F;t&#x017F;eyn &#x017F;einer im Urtheile der Vernunft<lb/>
zweckwidrigen Stimmung, mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t unzufrieden und<lb/>
launi&#x017F;ch macht.</p><lb/>
              <p>Wenn die &#x017F;cho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te nicht, nahe oder fern, mit<lb/>
morali&#x017F;chen Jdeen in Verbindung gebracht werden, die<lb/>
allein ein &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndiges Wohlgefallen bey &#x017F;ich fu&#x0364;hren, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t das letztere ihr endliches Schick&#x017F;al. Sie dienen als-<lb/>
denn nur zur Zer&#x017F;treuung, deren man immer de&#x017F;to mehr<lb/>
bedu&#x0364;rftig wird, als man &#x017F;ich ihrer bedient, um die Unzu-<lb/>
friedenheit des Gemu&#x0364;ths mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t dadurch zu ver-<lb/>
treiben, daß man &#x017F;ich immer noch unnu&#x0364;tzlicher und mit<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t unzufriedener macht: Ueberhaupt &#x017F;ind die Scho&#x0364;n-<lb/>
heiten der Natur zu der er&#x017F;teren Ab&#x017F;icht am zutra&#x0364;glich-<lb/>
&#x017F;ten, wenn man fru&#x0364;he dazu gewohnt wird, &#x017F;ie zu beob-<lb/>
achten, zu beurtheilen und zu bewundern.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">§. 53.<lb/>
Vergleichung des a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Werths der<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te untereinander.</hi> </head><lb/>
              <p>Unter allen behauptet die <hi rendition="#fr">Dichtkun&#x017F;t</hi> (die fa&#x017F;t<lb/>
ga&#x0364;nzlich dem Genie ihren Ur&#x017F;prung verdankt und am<lb/>
wenig&#x017F;ten durch Vor&#x017F;chrift, oder durch Bey&#x017F;piele geleitet<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0276] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. ihn mehrerer ſolcher Luſt und Unterhaltung empfaͤnglich macht, nicht in der Materie der Empfindung (dem Reitze oder der Ruͤhrung), wo es blos auf Genuß ange- legt iſt, welcher nichts in der Jdee zuruͤcklaͤßt, den Geiſt ſtumpf, den Gegenſtand aneckelnd und das Gemuͤth, durch das Bewuſtſeyn ſeiner im Urtheile der Vernunft zweckwidrigen Stimmung, mit ſich ſelbſt unzufrieden und launiſch macht. Wenn die ſchoͤne Kuͤnſte nicht, nahe oder fern, mit moraliſchen Jdeen in Verbindung gebracht werden, die allein ein ſelbſtſtaͤndiges Wohlgefallen bey ſich fuͤhren, ſo iſt das letztere ihr endliches Schickſal. Sie dienen als- denn nur zur Zerſtreuung, deren man immer deſto mehr beduͤrftig wird, als man ſich ihrer bedient, um die Unzu- friedenheit des Gemuͤths mit ſich ſelbſt dadurch zu ver- treiben, daß man ſich immer noch unnuͤtzlicher und mit ſich ſelbſt unzufriedener macht: Ueberhaupt ſind die Schoͤn- heiten der Natur zu der erſteren Abſicht am zutraͤglich- ſten, wenn man fruͤhe dazu gewohnt wird, ſie zu beob- achten, zu beurtheilen und zu bewundern. §. 53. Vergleichung des aͤſthetiſchen Werths der ſchoͤnen Kuͤnſte untereinander. Unter allen behauptet die Dichtkunſt (die faſt gaͤnzlich dem Genie ihren Urſprung verdankt und am wenigſten durch Vorſchrift, oder durch Beyſpiele geleitet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/276
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/276>, abgerufen am 25.04.2024.