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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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Sie alle kannten Ihn länger und besser,
Den nimmer wankenden Freund,
Den immer heiteren Christen und Weisen,
Der alles vertragen konnte, nur nicht
Geschminkte Lügen, und heuchelndes Preisen
Ins Angesicht.
Sie alle giessen, statt Honig und Weines,
Aus trauriger Pflicht
Ihm Thränenopfer aufs Grab, und eines
Der größesten bringet der edele Mann,
Der ältesten klagenden Tochter, sie lehnet
Am Pfeiler des Grabes sich an,
Das Auge zur Erde geheftet, und sehnet
Sich nach dem Vater, und spricht:
"Komm jüngere Schwester, und mische die Zähren
"Mit meinen; du sahest Ihn nicht
"Noch einmal *); und wirst es vergebens begehren,
"Bis dermaleinst zum großen Gericht
"Des Engels Posaune die Todten vereinet,
"Und Er gleich einem der Engel erscheinet
"Im seeligen Licht."



*) Weil dieselbe damals zu Magdeburg war.

Sie alle kannten Ihn laͤnger und beſſer,
Den nimmer wankenden Freund,
Den immer heiteren Chriſten und Weiſen,
Der alles vertragen konnte, nur nicht
Geſchminkte Luͤgen, und heuchelndes Preiſen
Ins Angeſicht.
Sie alle gieſſen, ſtatt Honig und Weines,
Aus trauriger Pflicht
Ihm Thraͤnenopfer aufs Grab, und eines
Der groͤßeſten bringet der edele Mann,
Der aͤlteſten klagenden Tochter, ſie lehnet
Am Pfeiler des Grabes ſich an,
Das Auge zur Erde geheftet, und ſehnet
Sich nach dem Vater, und ſpricht:
„Komm juͤngere Schweſter, und miſche die Zaͤhren
„Mit meinen; du ſaheſt Ihn nicht
„Noch einmal *); und wirſt es vergebens begehren,
„Bis dermaleinſt zum großen Gericht
„Des Engels Poſaune die Todten vereinet,
„Und Er gleich einem der Engel erſcheinet
„Im ſeeligen Licht.“



*) Weil dieſelbe damals zu Magdeburg war.
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[262/0422] Sie alle kannten Ihn laͤnger und beſſer, Den nimmer wankenden Freund, Den immer heiteren Chriſten und Weiſen, Der alles vertragen konnte, nur nicht Geſchminkte Luͤgen, und heuchelndes Preiſen Ins Angeſicht. Sie alle gieſſen, ſtatt Honig und Weines, Aus trauriger Pflicht Ihm Thraͤnenopfer aufs Grab, und eines Der groͤßeſten bringet der edele Mann, Der aͤlteſten klagenden Tochter, ſie lehnet Am Pfeiler des Grabes ſich an, Das Auge zur Erde geheftet, und ſehnet Sich nach dem Vater, und ſpricht: „Komm juͤngere Schweſter, und miſche die Zaͤhren „Mit meinen; du ſaheſt Ihn nicht „Noch einmal *); und wirſt es vergebens begehren, „Bis dermaleinſt zum großen Gericht „Des Engels Poſaune die Todten vereinet, „Und Er gleich einem der Engel erſcheinet „Im ſeeligen Licht.“ *) Weil dieſelbe damals zu Magdeburg war.

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/422>, abgerufen am 25.04.2024.