Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite
Sie nennt dich oft in einer Stunde
Wohl tausendmal den besten Freund,
Und schwört mit schmeichlerischem Munde
Beim Grabmal ihres Vaters, bei
Den Sternen und bei allen Göttern,
Bei Sonnenschein und Donnerwettern,
Daß ihr dein Kuß noch süßer sei,
Als Süßigkeit von jungen Bienen;
Und zaubert dich mit holden Mienen
An ihre giftbestrichne Brust
Und nennt dich ihre größte Lust,
Den ersten Abgott ihrer Seele,
Den reichsten Jüngling von der Welt,
Den Menschen, der in einer Höhle
Mehr ihren Augen wohlgefällt,
Als Prinzen, die so fein nicht fühlen
Im Prunksaal und auf goldnen Stühlen
Und einer sammtbezognen Bank.
Sie stellt sich gar vor Liebe krank,
Und redet nur gebrochne Töne.
O sanfter Jüngling, glaub es nicht:
Es ist die Stimme der Syrene,
Die ausstudirte Worte spricht,


Sie nennt dich oft in einer Stunde
Wohl tauſendmal den beſten Freund,
Und ſchwoͤrt mit ſchmeichleriſchem Munde
Beim Grabmal ihres Vaters, bei
Den Sternen und bei allen Goͤttern,
Bei Sonnenſchein und Donnerwettern,
Daß ihr dein Kuß noch ſuͤßer ſei,
Als Suͤßigkeit von jungen Bienen;
Und zaubert dich mit holden Mienen
An ihre giftbeſtrichne Bruſt
Und nennt dich ihre groͤßte Luſt,
Den erſten Abgott ihrer Seele,
Den reichſten Juͤngling von der Welt,
Den Menſchen, der in einer Hoͤhle
Mehr ihren Augen wohlgefaͤllt,
Als Prinzen, die ſo fein nicht fuͤhlen
Im Prunkſaal und auf goldnen Stuͤhlen
Und einer ſammtbezognen Bank.
Sie ſtellt ſich gar vor Liebe krank,
Und redet nur gebrochne Toͤne.
O ſanfter Juͤngling, glaub es nicht:
Es iſt die Stimme der Syrene,
Die ausſtudirte Worte ſpricht,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0462" n="302"/>
              <l>Sie nennt dich oft in einer Stunde</l><lb/>
              <l>Wohl tau&#x017F;endmal den be&#x017F;ten Freund,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;chwo&#x0364;rt mit &#x017F;chmeichleri&#x017F;chem Munde</l><lb/>
              <l>Beim Grabmal ihres Vaters, bei</l><lb/>
              <l>Den Sternen und bei allen Go&#x0364;ttern,</l><lb/>
              <l>Bei Sonnen&#x017F;chein und Donnerwettern,</l><lb/>
              <l>Daß ihr dein Kuß noch &#x017F;u&#x0364;ßer &#x017F;ei,</l><lb/>
              <l>Als Su&#x0364;ßigkeit von jungen Bienen;</l><lb/>
              <l>Und zaubert dich mit holden Mienen</l><lb/>
              <l>An ihre giftbe&#x017F;trichne Bru&#x017F;t</l><lb/>
              <l>Und nennt dich ihre gro&#x0364;ßte Lu&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Den er&#x017F;ten Abgott ihrer Seele,</l><lb/>
              <l>Den reich&#x017F;ten Ju&#x0364;ngling von der Welt,</l><lb/>
              <l>Den Men&#x017F;chen, der in einer Ho&#x0364;hle</l><lb/>
              <l>Mehr ihren Augen wohlgefa&#x0364;llt,</l><lb/>
              <l>Als Prinzen, die &#x017F;o fein nicht fu&#x0364;hlen</l><lb/>
              <l>Im Prunk&#x017F;aal und auf goldnen Stu&#x0364;hlen</l><lb/>
              <l>Und einer &#x017F;ammtbezognen Bank.</l><lb/>
              <l>Sie &#x017F;tellt &#x017F;ich gar vor Liebe krank,</l><lb/>
              <l>Und redet nur gebrochne To&#x0364;ne.</l><lb/>
              <l>O &#x017F;anfter Ju&#x0364;ngling, glaub es nicht:</l><lb/>
              <l>Es i&#x017F;t die Stimme der Syrene,</l><lb/>
              <l>Die aus&#x017F;tudirte Worte &#x017F;pricht,</l>
            </lg>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[302/0462] Sie nennt dich oft in einer Stunde Wohl tauſendmal den beſten Freund, Und ſchwoͤrt mit ſchmeichleriſchem Munde Beim Grabmal ihres Vaters, bei Den Sternen und bei allen Goͤttern, Bei Sonnenſchein und Donnerwettern, Daß ihr dein Kuß noch ſuͤßer ſei, Als Suͤßigkeit von jungen Bienen; Und zaubert dich mit holden Mienen An ihre giftbeſtrichne Bruſt Und nennt dich ihre groͤßte Luſt, Den erſten Abgott ihrer Seele, Den reichſten Juͤngling von der Welt, Den Menſchen, der in einer Hoͤhle Mehr ihren Augen wohlgefaͤllt, Als Prinzen, die ſo fein nicht fuͤhlen Im Prunkſaal und auf goldnen Stuͤhlen Und einer ſammtbezognen Bank. Sie ſtellt ſich gar vor Liebe krank, Und redet nur gebrochne Toͤne. O ſanfter Juͤngling, glaub es nicht: Es iſt die Stimme der Syrene, Die ausſtudirte Worte ſpricht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/462
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/462>, abgerufen am 28.03.2024.