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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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Und die Religion verbreitet helles Licht
In eines Christen Geist, der alle Zweifel bricht,
Die über ihn sich wölken wollen.
Wir wissen, daß wir einst das Reich besitzen sollen,
Das uns bereitet ist, wohin sich alsobald
Die Seele schwingen wird, wenn nun der Körper kalt
Blaß und benetzet liegt von unsrer Freunde Thränen.
Wie aber geht es zu, daß Menschen sich nicht sehnen
Nach diesem Ueberschritt? Warum sträubt unser Herz
Sich vor dem Tode schon bey kleiner Krankheit
Schmerz?
Der Kanzelredner mag des Himmels Wonne loben;
Doch wird kein weiser Mann früh nach dem Eingang
toben.
Ein kurzes Leben ist nie unsers Kummers Schuld,
Der Bettler selber trägt den Brodsack mit Geduld.
Ein Sklav in Tunis wühlt in seines Räubers Garten,
In Fesseln geht er gern Kameel und Esel warten.
Ein an der Ruderbank verdammter Sünder strebt
Aus Wellen an das Land, weil er so gerne lebt.
Doch alle müssen fort. Das zärtlichste Umarmen
Verliebter Seelen reizt den Tod nicht zum Erbarmen.
Ich bin von Sterblichkeit zusammen nur gewebt;
Wer glücklich ward wie ich, der hat genug gelebt.


Und die Religion verbreitet helles Licht
In eines Chriſten Geiſt, der alle Zweifel bricht,
Die uͤber ihn ſich woͤlken wollen.
Wir wiſſen, daß wir einſt das Reich beſitzen ſollen,
Das uns bereitet iſt, wohin ſich alſobald
Die Seele ſchwingen wird, wenn nun der Koͤrper kalt
Blaß und benetzet liegt von unſrer Freunde Thraͤnen.
Wie aber geht es zu, daß Menſchen ſich nicht ſehnen
Nach dieſem Ueberſchritt? Warum ſtraͤubt unſer Herz
Sich vor dem Tode ſchon bey kleiner Krankheit
Schmerz?
Der Kanzelredner mag des Himmels Wonne loben;
Doch wird kein weiſer Mann fruͤh nach dem Eingang
toben.
Ein kurzes Leben iſt nie unſers Kummers Schuld,
Der Bettler ſelber traͤgt den Brodſack mit Geduld.
Ein Sklav in Tunis wuͤhlt in ſeines Raͤubers Garten,
In Feſſeln geht er gern Kameel und Eſel warten.
Ein an der Ruderbank verdammter Suͤnder ſtrebt
Aus Wellen an das Land, weil er ſo gerne lebt.
Doch alle muͤſſen fort. Das zaͤrtlichſte Umarmen
Verliebter Seelen reizt den Tod nicht zum Erbarmen.
Ich bin von Sterblichkeit zuſammen nur gewebt;
Wer gluͤcklich ward wie ich, der hat genug gelebt.


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[319/0479] Und die Religion verbreitet helles Licht In eines Chriſten Geiſt, der alle Zweifel bricht, Die uͤber ihn ſich woͤlken wollen. Wir wiſſen, daß wir einſt das Reich beſitzen ſollen, Das uns bereitet iſt, wohin ſich alſobald Die Seele ſchwingen wird, wenn nun der Koͤrper kalt Blaß und benetzet liegt von unſrer Freunde Thraͤnen. Wie aber geht es zu, daß Menſchen ſich nicht ſehnen Nach dieſem Ueberſchritt? Warum ſtraͤubt unſer Herz Sich vor dem Tode ſchon bey kleiner Krankheit Schmerz? Der Kanzelredner mag des Himmels Wonne loben; Doch wird kein weiſer Mann fruͤh nach dem Eingang toben. Ein kurzes Leben iſt nie unſers Kummers Schuld, Der Bettler ſelber traͤgt den Brodſack mit Geduld. Ein Sklav in Tunis wuͤhlt in ſeines Raͤubers Garten, In Feſſeln geht er gern Kameel und Eſel warten. Ein an der Ruderbank verdammter Suͤnder ſtrebt Aus Wellen an das Land, weil er ſo gerne lebt. Doch alle muͤſſen fort. Das zaͤrtlichſte Umarmen Verliebter Seelen reizt den Tod nicht zum Erbarmen. Ich bin von Sterblichkeit zuſammen nur gewebt; Wer gluͤcklich ward wie ich, der hat genug gelebt.

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/479>, abgerufen am 16.04.2024.