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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Drittes Capitel
Worin es zur andern Hälfte gelingt.

Hierauf durchritt er verschiedene Gegenden, bis es
Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günstige Ge¬
legenheit aufgestoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der
Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr sei und eben,
als er das Pferd zu einem Wirthshause lenken wollte,
fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter
Bekannter von ihm sein mußte, und er richtete seinen Weg
nach dem Pfarrhause. Dort erregte er ein großes Er¬
staunen und eine unverhehlte Freude, die alsobald nach
Schüsseln und Tellern, nach Töpfchen und Gläsern, nach
Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das
gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erschien
eine blühende Tochter, deren Dasein Reinhart mit den
Jahren vergessen hatte; überrascht erinnerte er sich nun
wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur
Jungfrau herangewachsen war, deren Wangen ein feines
Roth schmückte und deren längliche Nase gleich einem
ernsten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der

Drittes Capitel
Worin es zur andern Hälfte gelingt.

Hierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es
Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬
legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der
Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben,
als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte,
fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter
Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg
nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬
ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach
Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach
Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das
gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien
eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den
Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun
wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur
Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines
Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem
ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der

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[[15]/0025] Drittes Capitel Worin es zur andern Hälfte gelingt. Hierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬ legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben, als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte, fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬ ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [15]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/25>, abgerufen am 28.03.2024.