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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Fünftes Capitel.
Herr Reinhart beginnt die Tragweite seiner Unter¬
nehmung zu ahnen.

Er fand bald diesen Seitenpfad; es war aber wirklich
ein schalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, so ver¬
lor er sich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬
neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düsterer
Tannennacht, bald unter dichtem Buschwerke. Er gerieth
immer höher hinauf und sah zuletzt, daß er an der Nord¬
seite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang
schlug er sich im wilden Forste herum und sah sich oft
genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.

Was mir in dieser Wildniß ersprießen wird, rief er
unmuthig aus, muß wohl eher eine stachlichte Distel, als
eine weiße Galathee sein!

Aber unvermerkt entwirrte sich zugleich das Wirrsal
in ersichtlich künstliche Anlagen, welche auf die Westseite
des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer
noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter,
hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle

Fünftes Capitel.
Herr Reinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unter¬
nehmung zu ahnen.

Er fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich
ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬
lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬
neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer
Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth
immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬
ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang
ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft
genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.

Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er
unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als
eine weiße Galathee ſein!

Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal
in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite
des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer
noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter,
hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle

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[[28]/0038] Fünftes Capitel. Herr Reinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unter¬ nehmung zu ahnen. Er fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬ lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬ neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬ ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen. Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als eine weiße Galathee ſein! Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter, hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [28]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/38>, abgerufen am 28.03.2024.