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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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natürlichen ohne irgend eine Vision oder Phantasma. Der
unnatürliche trat gewöhnlich sogleich ein, wenn man fromme
Worte an die Person richtete, und hörte auf den Ruf des
Schutzgeistes plötzlich auf, während sonst kein Mittel vor-
handen war, ihn zu vertreiben. Die Frau gab nicht nur
mit Namen und Personalien einen Verstorbenen an, den
sie erwiesener Maßen nie kannte, sondern seine Gesichts-
züge, wie er sie im Leben hatte, drückten sich zugleich in ih-
rem Gesichte ab. Dieß geht weit über eine Vision.

Auch läßt es sich nicht mit einer Vision reimen, daß der
Zustand, welcher nach den frühern Exorcismen immer wie-
derkehrte, nur auf einen solchen ausblieb, der das Weib
auch für die Zukunft verwahrte. Uebrigens muß man den
Verlauf der Sache selbst gesehen haben, um dem nichtigen
Wort einer Nervenanomalie mit Vision den Ab-
schied zu geben.

Aber eben so wenig reicht jene Hypothese zu, die zum
Kreise der Zauberey gehörigen Erscheinungen zu erklären.
Wären es blose Geständnisse von gesehenen und gehörten
Scenen, so möchte es noch gehen; aber da, wo die Aus-
sage mit einer in der Wirklichkeit substantiell gewordenen
Handlung übereinstimmt, hört Vision und Phantasma auf.



Simulation.

Daß besonders Frauenzimmer sich leicht in eine andere
Rolle einstudiren, eine fremde Individualität absichtlich an-
nehmen, in allen Actionen und Reden nachahmen und mit
großer Consequenz durchführen können, ist kein Zweifel,
aber es müssen unreine Triebfedern zum Grunde liegen.
Wo Geld, Ehre, Aufsehen oder irgend ein Vortheil zu ge-
winnen ist, da dürfen wir wohl auf Verstellung rathen.
Wo aber dieß Alles fehlt, vielmehr nichts als Kosten,
Sorgen, Jammer und üble Nachreden einzuernten sind, da

natürlichen ohne irgend eine Viſion oder Phantasma. Der
unnatürliche trat gewöhnlich ſogleich ein, wenn man fromme
Worte an die Perſon richtete, und hörte auf den Ruf des
Schutzgeiſtes plötzlich auf, während ſonſt kein Mittel vor-
handen war, ihn zu vertreiben. Die Frau gab nicht nur
mit Namen und Perſonalien einen Verſtorbenen an, den
ſie erwieſener Maßen nie kannte, ſondern ſeine Geſichts-
züge, wie er ſie im Leben hatte, drückten ſich zugleich in ih-
rem Geſichte ab. Dieß geht weit über eine Viſion.

Auch läßt es ſich nicht mit einer Viſion reimen, daß der
Zuſtand, welcher nach den frühern Exorcismen immer wie-
derkehrte, nur auf einen ſolchen ausblieb, der das Weib
auch für die Zukunft verwahrte. Uebrigens muß man den
Verlauf der Sache ſelbſt geſehen haben, um dem nichtigen
Wort einer Nervenanomalie mit Viſion den Ab-
ſchied zu geben.

Aber eben ſo wenig reicht jene Hypotheſe zu, die zum
Kreiſe der Zauberey gehörigen Erſcheinungen zu erklären.
Wären es bloſe Geſtändniſſe von geſehenen und gehörten
Scenen, ſo möchte es noch gehen; aber da, wo die Aus-
ſage mit einer in der Wirklichkeit ſubſtantiell gewordenen
Handlung übereinſtimmt, hört Viſion und Phantasma auf.



Simulation.

Daß beſonders Frauenzimmer ſich leicht in eine andere
Rolle einſtudiren, eine fremde Individualität abſichtlich an-
nehmen, in allen Actionen und Reden nachahmen und mit
großer Conſequenz durchführen können, iſt kein Zweifel,
aber es müſſen unreine Triebfedern zum Grunde liegen.
Wo Geld, Ehre, Aufſehen oder irgend ein Vortheil zu ge-
winnen iſt, da dürfen wir wohl auf Verſtellung rathen.
Wo aber dieß Alles fehlt, vielmehr nichts als Koſten,
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[176/0190] natürlichen ohne irgend eine Viſion oder Phantasma. Der unnatürliche trat gewöhnlich ſogleich ein, wenn man fromme Worte an die Perſon richtete, und hörte auf den Ruf des Schutzgeiſtes plötzlich auf, während ſonſt kein Mittel vor- handen war, ihn zu vertreiben. Die Frau gab nicht nur mit Namen und Perſonalien einen Verſtorbenen an, den ſie erwieſener Maßen nie kannte, ſondern ſeine Geſichts- züge, wie er ſie im Leben hatte, drückten ſich zugleich in ih- rem Geſichte ab. Dieß geht weit über eine Viſion. Auch läßt es ſich nicht mit einer Viſion reimen, daß der Zuſtand, welcher nach den frühern Exorcismen immer wie- derkehrte, nur auf einen ſolchen ausblieb, der das Weib auch für die Zukunft verwahrte. Uebrigens muß man den Verlauf der Sache ſelbſt geſehen haben, um dem nichtigen Wort einer Nervenanomalie mit Viſion den Ab- ſchied zu geben. Aber eben ſo wenig reicht jene Hypotheſe zu, die zum Kreiſe der Zauberey gehörigen Erſcheinungen zu erklären. Wären es bloſe Geſtändniſſe von geſehenen und gehörten Scenen, ſo möchte es noch gehen; aber da, wo die Aus- ſage mit einer in der Wirklichkeit ſubſtantiell gewordenen Handlung übereinſtimmt, hört Viſion und Phantasma auf. Simulation. Daß beſonders Frauenzimmer ſich leicht in eine andere Rolle einſtudiren, eine fremde Individualität abſichtlich an- nehmen, in allen Actionen und Reden nachahmen und mit großer Conſequenz durchführen können, iſt kein Zweifel, aber es müſſen unreine Triebfedern zum Grunde liegen. Wo Geld, Ehre, Aufſehen oder irgend ein Vortheil zu ge- winnen iſt, da dürfen wir wohl auf Verſtellung rathen. Wo aber dieß Alles fehlt, vielmehr nichts als Koſten, Sorgen, Jammer und üble Nachreden einzuernten ſind, da

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/190>, abgerufen am 29.03.2024.