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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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Aber ganz anders verhält es sich, wenn die Glieder jener
Proportionen die Gränzen überschreiten und in ihre Ex-
treme auslaufen. Alsdann löst sich die Einheit des Zu-
sammenhangs auf, die äußersten Glieder reißen sich von der
Verbindung mit den andern los und gewinnen eine solche
Uebermacht, daß die andern Glieder kaum noch als schwache
Coeffizienten bemerkbar sind.

Auf diesen Zustand sind unsere Vernunft- und Naturgesetze
nicht mehr anwendbar; vielmehr werden sie selbst von der
Uebermacht der sich isolirenden Glieder überwältigt und die
menschliche Natur wird in fremde Richtungen hineingezogen
und muß sich eine fremde Gewalt, die sich nicht auf ihrem
eigenen Boden erzeugt, gefallen lassen.

Die fremden Richtungen und Gewalten sind einander
entgegengesetzt, und wir können sie nun nach der Dignität
der einzelnen Ordnungen näher entwickeln.

In Hinsicht der physischen Ordnung läßt sich wohl
ein Reich denken, das noch viel tiefer liegt als die Gränze
der Schwere, die der Erde und ihrer uns bekannten Körper-
welt zugetheilt ist, und eben so ein Reich, das höher liegt,
als die Gränze des Lichts, das aus den entferntesten Ge-
stirnen in unser Auge scheinet.

Wird die Schwere so mächtig, daß Wärme und Licht
in ein Kleinstes übergehen, so daß selbst die Gesetze der
Bewegung, wie sie sich an den Massenkörpern äußern, auf-
hören und die Einheit, die aus der Proportion der drey
Grundkräfte sich bildet, in eine Differentialwelt zerfällt,
so ist dieses Reich unter die Gränze unserer Natur gesunken,
und heißt mit Recht Unnatur.

Das Evangelium nennt es das Reich der Finsterniß.

Wird hingegen das Licht so mächtig, daß Schwere und
Wärme in ein Kleinstes übergehen, so daß ebenfalls die
den Massenkörpern zugetheilten Bewegungsgesetze nicht mehr
passen und alle Naturen ätherisch werden, so ist dieß
Reich über die Gränze unserer Natur erhaben, und heißt
mit Recht Uebernatur.


Aber ganz anders verhält es ſich, wenn die Glieder jener
Proportionen die Gränzen überſchreiten und in ihre Ex-
treme auslaufen. Alsdann löst ſich die Einheit des Zu-
ſammenhangs auf, die äußerſten Glieder reißen ſich von der
Verbindung mit den andern los und gewinnen eine ſolche
Uebermacht, daß die andern Glieder kaum noch als ſchwache
Coeffizienten bemerkbar ſind.

Auf dieſen Zuſtand ſind unſere Vernunft- und Naturgeſetze
nicht mehr anwendbar; vielmehr werden ſie ſelbſt von der
Uebermacht der ſich iſolirenden Glieder überwältigt und die
menſchliche Natur wird in fremde Richtungen hineingezogen
und muß ſich eine fremde Gewalt, die ſich nicht auf ihrem
eigenen Boden erzeugt, gefallen laſſen.

Die fremden Richtungen und Gewalten ſind einander
entgegengeſetzt, und wir können ſie nun nach der Dignität
der einzelnen Ordnungen näher entwickeln.

In Hinſicht der phyſiſchen Ordnung läßt ſich wohl
ein Reich denken, das noch viel tiefer liegt als die Gränze
der Schwere, die der Erde und ihrer uns bekannten Körper-
welt zugetheilt iſt, und eben ſo ein Reich, das höher liegt,
als die Gränze des Lichts, das aus den entfernteſten Ge-
ſtirnen in unſer Auge ſcheinet.

Wird die Schwere ſo mächtig, daß Wärme und Licht
in ein Kleinſtes übergehen, ſo daß ſelbſt die Geſetze der
Bewegung, wie ſie ſich an den Maſſenkörpern äußern, auf-
hören und die Einheit, die aus der Proportion der drey
Grundkräfte ſich bildet, in eine Differentialwelt zerfällt,
ſo iſt dieſes Reich unter die Gränze unſerer Natur geſunken,
und heißt mit Recht Unnatur.

Das Evangelium nennt es das Reich der Finſterniß.

Wird hingegen das Licht ſo mächtig, daß Schwere und
Wärme in ein Kleinſtes übergehen, ſo daß ebenfalls die
den Maſſenkörpern zugetheilten Bewegungsgeſetze nicht mehr
paſſen und alle Naturen ätheriſch werden, ſo iſt dieß
Reich über die Gränze unſerer Natur erhaben, und heißt
mit Recht Uebernatur.


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[122/0136] Aber ganz anders verhält es ſich, wenn die Glieder jener Proportionen die Gränzen überſchreiten und in ihre Ex- treme auslaufen. Alsdann löst ſich die Einheit des Zu- ſammenhangs auf, die äußerſten Glieder reißen ſich von der Verbindung mit den andern los und gewinnen eine ſolche Uebermacht, daß die andern Glieder kaum noch als ſchwache Coeffizienten bemerkbar ſind. Auf dieſen Zuſtand ſind unſere Vernunft- und Naturgeſetze nicht mehr anwendbar; vielmehr werden ſie ſelbſt von der Uebermacht der ſich iſolirenden Glieder überwältigt und die menſchliche Natur wird in fremde Richtungen hineingezogen und muß ſich eine fremde Gewalt, die ſich nicht auf ihrem eigenen Boden erzeugt, gefallen laſſen. Die fremden Richtungen und Gewalten ſind einander entgegengeſetzt, und wir können ſie nun nach der Dignität der einzelnen Ordnungen näher entwickeln. In Hinſicht der phyſiſchen Ordnung läßt ſich wohl ein Reich denken, das noch viel tiefer liegt als die Gränze der Schwere, die der Erde und ihrer uns bekannten Körper- welt zugetheilt iſt, und eben ſo ein Reich, das höher liegt, als die Gränze des Lichts, das aus den entfernteſten Ge- ſtirnen in unſer Auge ſcheinet. Wird die Schwere ſo mächtig, daß Wärme und Licht in ein Kleinſtes übergehen, ſo daß ſelbſt die Geſetze der Bewegung, wie ſie ſich an den Maſſenkörpern äußern, auf- hören und die Einheit, die aus der Proportion der drey Grundkräfte ſich bildet, in eine Differentialwelt zerfällt, ſo iſt dieſes Reich unter die Gränze unſerer Natur geſunken, und heißt mit Recht Unnatur. Das Evangelium nennt es das Reich der Finſterniß. Wird hingegen das Licht ſo mächtig, daß Schwere und Wärme in ein Kleinſtes übergehen, ſo daß ebenfalls die den Maſſenkörpern zugetheilten Bewegungsgeſetze nicht mehr paſſen und alle Naturen ätheriſch werden, ſo iſt dieß Reich über die Gränze unſerer Natur erhaben, und heißt mit Recht Uebernatur.

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/136>, abgerufen am 29.03.2024.