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von Keyserling, Eduard: Beate und Mareile. Eine Schloßgeschichte. Berlin, [1909].

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Viertes Kapitel

Das Stationsgebäude lag jenseits des Dorfes auf einem schattenlosen Sandhügel. Die Mittagssonne stach sengend auf den Bahnsteig nieder. Die elektrische Glocke meldete den Schnellzug. Herr Ahlmeyer, der Stationsvorsteher, erschien, die rote Mütze im Nacken. Über ihm, im ersten Stock des Hauses, wurde ein Fenster geöffnet. Betty Ahlmeyer steckte den blonden Kopf heraus und blickte gespannt den Schienenweg hinab. So erwartete sie seit dreiundzwanzig Jahren jeden Zug.

Heute erlebte sie etwas. Als der Zug hielt, entstieg einem Wagen erster Klasse Mareile Ziepe. In einen rahmfarbenen Staubmantel gehüllt, stand sie auf dem Bahnsteig und wiegte eine kleine, rote Tasche hin und her. Ahlmeyer schoß auf sie zu: "Fräulein Mareile - signora - nicht möglich! Wir haben Sie nicht erwartet."

"So ist kein Wagen da?" fragte Mareile ruhig. Nein, es war kein Wagen da. Aber wollte Mareile nicht Kaffee trinken? Wollte sie nicht Ahlmeyers Fuchs und Jagdwagen? Nein, Mareile wollte zu Fuß gehen. "Künstlerinnen sind unberechenbar!" meinte Ahlmeyer.

Mareile schlug den Fußpfad über die Heide ein. Das warme, staubige Kraut knisterte unter ihren Füßen. Es duftete schwer nach Wacholder, Wermut, Schafgarbe. Töne, wie das Schwirren einer Violinsaite, zogen über das Land. Die lichtgebadete Schläfrigkeit über den altbekannten Orten stimmte Mareile nachdenklich. Die Arbeit an ihrem Schicksal hatte ihr die Heimat so fern gerückt.

Viertes Kapitel

Das Stationsgebäude lag jenseits des Dorfes auf einem schattenlosen Sandhügel. Die Mittagssonne stach sengend auf den Bahnsteig nieder. Die elektrische Glocke meldete den Schnellzug. Herr Ahlmeyer, der Stationsvorsteher, erschien, die rote Mütze im Nacken. Über ihm, im ersten Stock des Hauses, wurde ein Fenster geöffnet. Betty Ahlmeyer steckte den blonden Kopf heraus und blickte gespannt den Schienenweg hinab. So erwartete sie seit dreiundzwanzig Jahren jeden Zug.

Heute erlebte sie etwas. Als der Zug hielt, entstieg einem Wagen erster Klasse Mareile Ziepe. In einen rahmfarbenen Staubmantel gehüllt, stand sie auf dem Bahnsteig und wiegte eine kleine, rote Tasche hin und her. Ahlmeyer schoß auf sie zu: „Fräulein Mareile – signora – nicht möglich! Wir haben Sie nicht erwartet.“

„So ist kein Wagen da?“ fragte Mareile ruhig. Nein, es war kein Wagen da. Aber wollte Mareile nicht Kaffee trinken? Wollte sie nicht Ahlmeyers Fuchs und Jagdwagen? Nein, Mareile wollte zu Fuß gehen. „Künstlerinnen sind unberechenbar!“ meinte Ahlmeyer.

Mareile schlug den Fußpfad über die Heide ein. Das warme, staubige Kraut knisterte unter ihren Füßen. Es duftete schwer nach Wacholder, Wermut, Schafgarbe. Töne, wie das Schwirren einer Violinsaite, zogen über das Land. Die lichtgebadete Schläfrigkeit über den altbekannten Orten stimmte Mareile nachdenklich. Die Arbeit an ihrem Schicksal hatte ihr die Heimat so fern gerückt.

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[24/0026] Viertes Kapitel Das Stationsgebäude lag jenseits des Dorfes auf einem schattenlosen Sandhügel. Die Mittagssonne stach sengend auf den Bahnsteig nieder. Die elektrische Glocke meldete den Schnellzug. Herr Ahlmeyer, der Stationsvorsteher, erschien, die rote Mütze im Nacken. Über ihm, im ersten Stock des Hauses, wurde ein Fenster geöffnet. Betty Ahlmeyer steckte den blonden Kopf heraus und blickte gespannt den Schienenweg hinab. So erwartete sie seit dreiundzwanzig Jahren jeden Zug. Heute erlebte sie etwas. Als der Zug hielt, entstieg einem Wagen erster Klasse Mareile Ziepe. In einen rahmfarbenen Staubmantel gehüllt, stand sie auf dem Bahnsteig und wiegte eine kleine, rote Tasche hin und her. Ahlmeyer schoß auf sie zu: „Fräulein Mareile – signora – nicht möglich! Wir haben Sie nicht erwartet.“ „So ist kein Wagen da?“ fragte Mareile ruhig. Nein, es war kein Wagen da. Aber wollte Mareile nicht Kaffee trinken? Wollte sie nicht Ahlmeyers Fuchs und Jagdwagen? Nein, Mareile wollte zu Fuß gehen. „Künstlerinnen sind unberechenbar!“ meinte Ahlmeyer. Mareile schlug den Fußpfad über die Heide ein. Das warme, staubige Kraut knisterte unter ihren Füßen. Es duftete schwer nach Wacholder, Wermut, Schafgarbe. Töne, wie das Schwirren einer Violinsaite, zogen über das Land. Die lichtgebadete Schläfrigkeit über den altbekannten Orten stimmte Mareile nachdenklich. Die Arbeit an ihrem Schicksal hatte ihr die Heimat so fern gerückt.

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Zitationshilfe: von Keyserling, Eduard: Beate und Mareile. Eine Schloßgeschichte. Berlin, [1909], S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keyserling_beatemareile_1903/26>, abgerufen am 29.03.2024.