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Klein, Felix: Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen. Erlangen, 1872.

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höheren Raumes etc. An und für sich hat diese Redeweise
manches Gute, insofern sie durch Erinnern an die geometrischen
Anschauungen das Verständniss erleichtert. Sie hat aber die
nachtheilige Folge gehabt, dass in ausgedehnten Kreisen die
Untersuchungen über Mannigfaltigkeiten mit beliebig vielen
Dimensionen als solidarisch erachtet werden mit der erwähnten
Vorstellung von der Beschaffenheit des Raumes. Nichts ist
grundloser als diese Auffassung. Die betr. mathematischen
Untersuchungen würden allerdings sofort geometrische Ver-
wendung finden, wenn die Vorstellung richtig wäre, -- aber
ihr Werth und ihre Absicht ruht, gänzlich unabhängig von
dieser Vorstellung, in ihrem eigenen mathematischen Inhalte.

Etwas ganz anders ist es, wenn Plücker gelehrt hat, den
wirklichen Raum als eine Mannigfaltigkeit von beliebig vielen
Dimensionen aufzufassen, indem man als Element des Raumes
ein von beliebig vielen Parametern abhängendes Gebilde (Curve,
Fläche etc.) einführt (vergl. §. 5 des Textes).

Die Vorstellungsweise, welche das Element der beliebig
ausgedehnten Mannigfaltigkeit als ein Analogon zum Puncte
des Raumes betrachtet, ist wohl zuerst von Grassmann in
seiner Ausdehnungslehre (1844) entwickelt worden. Bei ihm
ist der Gedanke völlig frei von der erwähnten Vorstellung von
der Natur des Raumes; letztere geht auf gelegentliche Be-
merkungen von Gauss zurück und wurde durch Riemann's
Untersuchungen über mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten,
in welche sie mit eingeflochten ist, in weiteren Kreisen bekannt.

Beide Auffassungsweisen -- die Grassmann'sche wie
die Plücker'sche -- haben ihre eigenthümlichen Vorzüge;
man verwendet sie beide, zwischen ihnen abwechselnd, mit
Vortheil.

V. Ueber die sogenannte Nicht-Euklidische
Geometrie
.

Die im Texte gemeinte projectivische Massgeometrie coin-
cidirt, wie neuere Untersuchungen gelehrt haben, dem Wesen
nach mit der Massgeometrie, welche unter Nicht-Annahme des
Parallelen-Axiom's entworfen werden kann und die zur Zeit
unter dem Namen der Nicht-Euklidischen Geometrie vielfach
besprochen und disputirt wird. Wenn wir im Texte diesen
Namen überhaupt nicht berührt haben, so geschah es aus einem
Grunde, der mit den in der vorstehenden Note gegebenen Aus-

höheren Raumes etc. An und für sich hat diese Redeweise
manches Gute, insofern sie durch Erinnern an die geometrischen
Anschauungen das Verständniss erleichtert. Sie hat aber die
nachtheilige Folge gehabt, dass in ausgedehnten Kreisen die
Untersuchungen über Mannigfaltigkeiten mit beliebig vielen
Dimensionen als solidarisch erachtet werden mit der erwähnten
Vorstellung von der Beschaffenheit des Raumes. Nichts ist
grundloser als diese Auffassung. Die betr. mathematischen
Untersuchungen würden allerdings sofort geometrische Ver-
wendung finden, wenn die Vorstellung richtig wäre, — aber
ihr Werth und ihre Absicht ruht, gänzlich unabhängig von
dieser Vorstellung, in ihrem eigenen mathematischen Inhalte.

Etwas ganz anders ist es, wenn Plücker gelehrt hat, den
wirklichen Raum als eine Mannigfaltigkeit von beliebig vielen
Dimensionen aufzufassen, indem man als Element des Raumes
ein von beliebig vielen Parametern abhängendes Gebilde (Curve,
Fläche etc.) einführt (vergl. §. 5 des Textes).

Die Vorstellungsweise, welche das Element der beliebig
ausgedehnten Mannigfaltigkeit als ein Analogon zum Puncte
des Raumes betrachtet, ist wohl zuerst von Grassmann in
seiner Ausdehnungslehre (1844) entwickelt worden. Bei ihm
ist der Gedanke völlig frei von der erwähnten Vorstellung von
der Natur des Raumes; letztere geht auf gelegentliche Be-
merkungen von Gauss zurück und wurde durch Riemann’s
Untersuchungen über mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten,
in welche sie mit eingeflochten ist, in weiteren Kreisen bekannt.

Beide Auffassungsweisen — die Grassmann’sche wie
die Plücker’sche — haben ihre eigenthümlichen Vorzüge;
man verwendet sie beide, zwischen ihnen abwechselnd, mit
Vortheil.

V. Ueber die sogenannte Nicht-Euklidische
Geometrie
.

Die im Texte gemeinte projectivische Massgeometrie coïn-
cidirt, wie neuere Untersuchungen gelehrt haben, dem Wesen
nach mit der Massgeometrie, welche unter Nicht-Annahme des
Parallelen-Axiom’s entworfen werden kann und die zur Zeit
unter dem Namen der Nicht-Euklidischen Geometrie vielfach
besprochen und disputirt wird. Wenn wir im Texte diesen
Namen überhaupt nicht berührt haben, so geschah es aus einem
Grunde, der mit den in der vorstehenden Note gegebenen Aus-

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[43/0051] höheren Raumes etc. An und für sich hat diese Redeweise manches Gute, insofern sie durch Erinnern an die geometrischen Anschauungen das Verständniss erleichtert. Sie hat aber die nachtheilige Folge gehabt, dass in ausgedehnten Kreisen die Untersuchungen über Mannigfaltigkeiten mit beliebig vielen Dimensionen als solidarisch erachtet werden mit der erwähnten Vorstellung von der Beschaffenheit des Raumes. Nichts ist grundloser als diese Auffassung. Die betr. mathematischen Untersuchungen würden allerdings sofort geometrische Ver- wendung finden, wenn die Vorstellung richtig wäre, — aber ihr Werth und ihre Absicht ruht, gänzlich unabhängig von dieser Vorstellung, in ihrem eigenen mathematischen Inhalte. Etwas ganz anders ist es, wenn Plücker gelehrt hat, den wirklichen Raum als eine Mannigfaltigkeit von beliebig vielen Dimensionen aufzufassen, indem man als Element des Raumes ein von beliebig vielen Parametern abhängendes Gebilde (Curve, Fläche etc.) einführt (vergl. §. 5 des Textes). Die Vorstellungsweise, welche das Element der beliebig ausgedehnten Mannigfaltigkeit als ein Analogon zum Puncte des Raumes betrachtet, ist wohl zuerst von Grassmann in seiner Ausdehnungslehre (1844) entwickelt worden. Bei ihm ist der Gedanke völlig frei von der erwähnten Vorstellung von der Natur des Raumes; letztere geht auf gelegentliche Be- merkungen von Gauss zurück und wurde durch Riemann’s Untersuchungen über mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten, in welche sie mit eingeflochten ist, in weiteren Kreisen bekannt. Beide Auffassungsweisen — die Grassmann’sche wie die Plücker’sche — haben ihre eigenthümlichen Vorzüge; man verwendet sie beide, zwischen ihnen abwechselnd, mit Vortheil. V. Ueber die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. Die im Texte gemeinte projectivische Massgeometrie coïn- cidirt, wie neuere Untersuchungen gelehrt haben, dem Wesen nach mit der Massgeometrie, welche unter Nicht-Annahme des Parallelen-Axiom’s entworfen werden kann und die zur Zeit unter dem Namen der Nicht-Euklidischen Geometrie vielfach besprochen und disputirt wird. Wenn wir im Texte diesen Namen überhaupt nicht berührt haben, so geschah es aus einem Grunde, der mit den in der vorstehenden Note gegebenen Aus-

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Zitationshilfe: Klein, Felix: Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen. Erlangen, 1872, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klein_geometrische_1872/51>, abgerufen am 20.04.2024.