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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788.

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22.

Wenn denn nun aber würklich unser
Freund sich so moralisch verschlimmert, oder
unser leichtgläubiges Herz sich in einem solchen
Grade in seinem Zutrauen zu ihm betrogen,
daß er unsre Vertraulichkeit gemißbraucht, uns
mit Undank belohnt hätte -- Nun! so hört
er auf unser Freund zu seyn; Ich meine aber,
er behält doch nicht mehr und nicht weniger
Rechte auf unsre Duldung, als jeder andre,
uns fremde Mensch. Ich halte es für eine
falsche Delicatesse, an welcher mehrentheils
die Eitelkeit, indem wir uns ungern wollen
geirrt haben, ihren Theil hat, wenn man
glaubt, man müsse nun von einem solchen Ver¬
räther immer mit großer Schonung reden, weil
er einst unser Freund gewesen. Das Einzige,
was uns bewegen kann, Seiner zu schonen,
ist der Gedanke, daß überhaupt das mensch¬
liche Herz ein schwaches Ding ist, und daß man
leicht zu weit in seinem Widerwillen geht, wenn
eine Art von Rache sich in unser Urtheil mischt.
Von der andern Seite aber macht der Umstand,
daß der Mann uns betrogen, sein Verbrechen
nicht um ein Haar breit größer, berechtigt uns

nicht,
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Wenn denn nun aber wuͤrklich unſer
Freund ſich ſo moraliſch verſchlimmert, oder
unſer leichtglaͤubiges Herz ſich in einem ſolchen
Grade in ſeinem Zutrauen zu ihm betrogen,
daß er unſre Vertraulichkeit gemißbraucht, uns
mit Undank belohnt haͤtte — Nun! ſo hoͤrt
er auf unſer Freund zu ſeyn; Ich meine aber,
er behaͤlt doch nicht mehr und nicht weniger
Rechte auf unſre Duldung, als jeder andre,
uns fremde Menſch. Ich halte es fuͤr eine
falſche Delicateſſe, an welcher mehrentheils
die Eitelkeit, indem wir uns ungern wollen
geirrt haben, ihren Theil hat, wenn man
glaubt, man muͤſſe nun von einem ſolchen Ver¬
raͤther immer mit großer Schonung reden, weil
er einſt unſer Freund geweſen. Das Einzige,
was uns bewegen kann, Seiner zu ſchonen,
iſt der Gedanke, daß uͤberhaupt das menſch¬
liche Herz ein ſchwaches Ding iſt, und daß man
leicht zu weit in ſeinem Widerwillen geht, wenn
eine Art von Rache ſich in unſer Urtheil miſcht.
Von der andern Seite aber macht der Umſtand,
daß der Mann uns betrogen, ſein Verbrechen
nicht um ein Haar breit groͤßer, berechtigt uns

nicht,
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[261/0291] 22. Wenn denn nun aber wuͤrklich unſer Freund ſich ſo moraliſch verſchlimmert, oder unſer leichtglaͤubiges Herz ſich in einem ſolchen Grade in ſeinem Zutrauen zu ihm betrogen, daß er unſre Vertraulichkeit gemißbraucht, uns mit Undank belohnt haͤtte — Nun! ſo hoͤrt er auf unſer Freund zu ſeyn; Ich meine aber, er behaͤlt doch nicht mehr und nicht weniger Rechte auf unſre Duldung, als jeder andre, uns fremde Menſch. Ich halte es fuͤr eine falſche Delicateſſe, an welcher mehrentheils die Eitelkeit, indem wir uns ungern wollen geirrt haben, ihren Theil hat, wenn man glaubt, man muͤſſe nun von einem ſolchen Ver¬ raͤther immer mit großer Schonung reden, weil er einſt unſer Freund geweſen. Das Einzige, was uns bewegen kann, Seiner zu ſchonen, iſt der Gedanke, daß uͤberhaupt das menſch¬ liche Herz ein ſchwaches Ding iſt, und daß man leicht zu weit in ſeinem Widerwillen geht, wenn eine Art von Rache ſich in unſer Urtheil miſcht. Von der andern Seite aber macht der Umſtand, daß der Mann uns betrogen, ſein Verbrechen nicht um ein Haar breit groͤßer, berechtigt uns nicht, R 3

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Zitationshilfe: Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang01_1788/291>, abgerufen am 28.03.2024.