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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788.

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und ganz hin, der sich meinen Freund nannte
und mir einige Zuneigung bewies, wurde oft
schändlich betrogen und in den süßesten Er¬
wartungen getäuscht; nachher war ich jeder¬
manns Freund, bereit Jedem zu dienen, und
dann schloß sich niemand mit ganzer Seele an
mich, weil niemand mit dem kleinen, in so
viel Partikeln getheilten Stückgen Herzen
vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel er¬
wartete, wurde ich getäuscht; wenn ich ohne
allen Glauben an Treue und Redlichkeit un¬
ter den Menschen umherrennte, hatte ich gar
keinen Genuß, nahm an gar nichts Theil.
Nie aber verbarg ich meine schwachen Seiten
so sorgfältig, als ich hätte thun sollen -- Und
so vergiengen dann die Jahre, in welchen ich
hätte mein Glück machen können, wie man
das gewöhnlich nennt; Jetzt da ich die Men¬
schen besser kenne, da Erfahrung mir die Au¬
gen geöfnet, mich vorsichtig gemacht und viel¬
leicht die Kunst gelehrt hat, auf Andre zu
würken; jetzt ist es zu spät für mich, diese
Wissenschaft in Anwendung zu bringen. Mein
Rücken krümmt sich mit Mühe zu Reveren¬
zen; ich habe nicht viel unnütze Zeit mehr zu

ver¬

und ganz hin, der ſich meinen Freund nannte
und mir einige Zuneigung bewies, wurde oft
ſchaͤndlich betrogen und in den ſuͤßeſten Er¬
wartungen getaͤuſcht; nachher war ich jeder¬
manns Freund, bereit Jedem zu dienen, und
dann ſchloß ſich niemand mit ganzer Seele an
mich, weil niemand mit dem kleinen, in ſo
viel Partikeln getheilten Stuͤckgen Herzen
vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel er¬
wartete, wurde ich getaͤuſcht; wenn ich ohne
allen Glauben an Treue und Redlichkeit un¬
ter den Menſchen umherrennte, hatte ich gar
keinen Genuß, nahm an gar nichts Theil.
Nie aber verbarg ich meine ſchwachen Seiten
ſo ſorgfaͤltig, als ich haͤtte thun ſollen — Und
ſo vergiengen dann die Jahre, in welchen ich
haͤtte mein Gluͤck machen koͤnnen, wie man
das gewoͤhnlich nennt; Jetzt da ich die Men¬
ſchen beſſer kenne, da Erfahrung mir die Au¬
gen geoͤfnet, mich vorſichtig gemacht und viel¬
leicht die Kunſt gelehrt hat, auf Andre zu
wuͤrken; jetzt iſt es zu ſpaͤt fuͤr mich, dieſe
Wiſſenſchaft in Anwendung zu bringen. Mein
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[32/0062] und ganz hin, der ſich meinen Freund nannte und mir einige Zuneigung bewies, wurde oft ſchaͤndlich betrogen und in den ſuͤßeſten Er¬ wartungen getaͤuſcht; nachher war ich jeder¬ manns Freund, bereit Jedem zu dienen, und dann ſchloß ſich niemand mit ganzer Seele an mich, weil niemand mit dem kleinen, in ſo viel Partikeln getheilten Stuͤckgen Herzen vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel er¬ wartete, wurde ich getaͤuſcht; wenn ich ohne allen Glauben an Treue und Redlichkeit un¬ ter den Menſchen umherrennte, hatte ich gar keinen Genuß, nahm an gar nichts Theil. Nie aber verbarg ich meine ſchwachen Seiten ſo ſorgfaͤltig, als ich haͤtte thun ſollen — Und ſo vergiengen dann die Jahre, in welchen ich haͤtte mein Gluͤck machen koͤnnen, wie man das gewoͤhnlich nennt; Jetzt da ich die Men¬ ſchen beſſer kenne, da Erfahrung mir die Au¬ gen geoͤfnet, mich vorſichtig gemacht und viel¬ leicht die Kunſt gelehrt hat, auf Andre zu wuͤrken; jetzt iſt es zu ſpaͤt fuͤr mich, dieſe Wiſſenſchaft in Anwendung zu bringen. Mein Ruͤcken kruͤmmt ſich mit Muͤhe zu Reveren¬ zen; ich habe nicht viel unnuͤtze Zeit mehr zu ver¬

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Zitationshilfe: Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang01_1788/62>, abgerufen am 28.03.2024.