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Koch, Konrad: Der Nutzen der Wettspiele. In: E. von Schenckendorff/ F. A. Schmidt (Hg.): Jahrbuch für Jugend- und Volksspiele. 3. Jahrgang. Leipzig, 1894. S. 38-43.

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ließen, wie damals. Schon vor zwanzig Jahren bei der Aufstellung
der Statistik des Schulturnens von Lion 1873 waren aus vielen
deutschen Gauen Klagen erklungen, daß es mit dem Jugendspiele
traurig bestellt sei, und daß unsere Jugend statt dessen in ihren Muße-
stunden vorzeitigen, verderblichen Vergnügungen und Genüssen nachgehe.
Es war das Spiel im Freien durch mancherlei Umstände den Schülern
sehr erschwert. Um zum Spielplatze zu gelangen, mußten sie erst eine
viertel, ja eine halbe Stunde Wegs zurücklegen, sie konnten schon des-
halb nur an den freien Nachmittagen daran denken; es war nicht mehr
möglich, zum Spiel eilig die Nachbarssöhne abzurufen, es mußten um-
ständliche Verabredungen vorher getroffen werden; das Spielgerät war
auch nicht gleich zur Hand; mit einem Worte, die Verhältnisse machten
die freien Spiele fast überall so gut wie unmöglich. Kaum daß die
noch nicht schulpflichtige Jugend zu ihren wenig Platz in Anspruch
nehmenden Spielereien eine freie Stelle fand, wo sie sich ungehindert,
von mehr oder weniger Störungen abgesehen, belustigen konnte.

Die kräftigen Bewegungsspiele - der vieldeutige Ausdruck Spiele
allein könnte zu Mißverständnissen führen - sind unserer heutigen
Jugend so unbekannt geworden, daß die Schule für ihre Zöglinge
nicht allein die Veranstaltung derselben übernehmen, sondern auch erst
ihre Kenntnis ihnen vermitteln muß. Wenn unseren Schülern solche
Spiele nicht eingeübt werden, spielen sie schon aus dem Grunde nicht,
weil sie es nicht verstehen. Daß das etwas Unerfreuliches ist, und daß
es meinetwegen auch nicht natürgemäß erscheint, wenn die Schule zum
Spielen anhalten muß, ändert an der einmal vorliegenden Thatsache
nichts. Es sollte aber allerdings bei Anordnung und Leitung der
Spiele von vornherein grundsätzlich darauf Rücksicht genommen werden,
daß der jetzige Zustand nicht als ein naturgemäßer anzusehen ist, und
daß, soweit möglich, der frühere Zustand, wo die Jugend freiwillig
spielte, wieder angestrebt werden muß. Grade beim Spiele gilt jeden-
falls das Wort, daß ein guter Lehrer dahin streben muß, sich möglichst
bald überflüssig zu machen. Schon bei früherer Gelegenheit (Jahrbuch
1893, 2. Jahrgang, S. 16) ist darauf aufmerksam gemacht, daß des-
halb den Schülern beim Spiele möglichste Selbständigkeit und Freiheit
zu lassen ist. Die Schüler einer Anstalt müssen sozusagen eine Spiel-
gemeinde bilden, thunlichst unter eigener Leitung. Daneben sollten
für das freiwillige Spielen sich eigene Spielvereine entwickeln, die sich
einem bestimmten Spiele ausschließlich widmen. Das alles ist natür-
lich nur unter der Bedingung möglich, daß vorher in der Schuljugend
ein reger Spieleifer geweckt ist. Zu einen Wecken und Steigern des

ließen, wie damals. Schon vor zwanzig Jahren bei der Aufstellung
der Statistik des Schulturnens von Lion 1873 waren aus vielen
deutschen Gauen Klagen erklungen, daß es mit dem Jugendspiele
traurig bestellt sei, und daß unsere Jugend statt dessen in ihren Muße-
stunden vorzeitigen, verderblichen Vergnügungen und Genüssen nachgehe.
Es war das Spiel im Freien durch mancherlei Umstände den Schülern
sehr erschwert. Um zum Spielplatze zu gelangen, mußten sie erst eine
viertel, ja eine halbe Stunde Wegs zurücklegen, sie konnten schon des-
halb nur an den freien Nachmittagen daran denken; es war nicht mehr
möglich, zum Spiel eilig die Nachbarssöhne abzurufen, es mußten um-
ständliche Verabredungen vorher getroffen werden; das Spielgerät war
auch nicht gleich zur Hand; mit einem Worte, die Verhältnisse machten
die freien Spiele fast überall so gut wie unmöglich. Kaum daß die
noch nicht schulpflichtige Jugend zu ihren wenig Platz in Anspruch
nehmenden Spielereien eine freie Stelle fand, wo sie sich ungehindert,
von mehr oder weniger Störungen abgesehen, belustigen konnte.

Die kräftigen Bewegungsspiele – der vieldeutige Ausdruck Spiele
allein könnte zu Mißverständnissen führen – sind unserer heutigen
Jugend so unbekannt geworden, daß die Schule für ihre Zöglinge
nicht allein die Veranstaltung derselben übernehmen, sondern auch erst
ihre Kenntnis ihnen vermitteln muß. Wenn unseren Schülern solche
Spiele nicht eingeübt werden, spielen sie schon aus dem Grunde nicht,
weil sie es nicht verstehen. Daß das etwas Unerfreuliches ist, und daß
es meinetwegen auch nicht natürgemäß erscheint, wenn die Schule zum
Spielen anhalten muß, ändert an der einmal vorliegenden Thatsache
nichts. Es sollte aber allerdings bei Anordnung und Leitung der
Spiele von vornherein grundsätzlich darauf Rücksicht genommen werden,
daß der jetzige Zustand nicht als ein naturgemäßer anzusehen ist, und
daß, soweit möglich, der frühere Zustand, wo die Jugend freiwillig
spielte, wieder angestrebt werden muß. Grade beim Spiele gilt jeden-
falls das Wort, daß ein guter Lehrer dahin streben muß, sich möglichst
bald überflüssig zu machen. Schon bei früherer Gelegenheit (Jahrbuch
1893, 2. Jahrgang, S. 16) ist darauf aufmerksam gemacht, daß des-
halb den Schülern beim Spiele möglichste Selbständigkeit und Freiheit
zu lassen ist. Die Schüler einer Anstalt müssen sozusagen eine Spiel-
gemeinde bilden, thunlichst unter eigener Leitung. Daneben sollten
für das freiwillige Spielen sich eigene Spielvereine entwickeln, die sich
einem bestimmten Spiele ausschließlich widmen. Das alles ist natür-
lich nur unter der Bedingung möglich, daß vorher in der Schuljugend
ein reger Spieleifer geweckt ist. Zu einen Wecken und Steigern des

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[39/0003] ließen, wie damals. Schon vor zwanzig Jahren bei der Aufstellung der Statistik des Schulturnens von Lion 1873 waren aus vielen deutschen Gauen Klagen erklungen, daß es mit dem Jugendspiele traurig bestellt sei, und daß unsere Jugend statt dessen in ihren Muße- stunden vorzeitigen, verderblichen Vergnügungen und Genüssen nachgehe. Es war das Spiel im Freien durch mancherlei Umstände den Schülern sehr erschwert. Um zum Spielplatze zu gelangen, mußten sie erst eine viertel, ja eine halbe Stunde Wegs zurücklegen, sie konnten schon des- halb nur an den freien Nachmittagen daran denken; es war nicht mehr möglich, zum Spiel eilig die Nachbarssöhne abzurufen, es mußten um- ständliche Verabredungen vorher getroffen werden; das Spielgerät war auch nicht gleich zur Hand; mit einem Worte, die Verhältnisse machten die freien Spiele fast überall so gut wie unmöglich. Kaum daß die noch nicht schulpflichtige Jugend zu ihren wenig Platz in Anspruch nehmenden Spielereien eine freie Stelle fand, wo sie sich ungehindert, von mehr oder weniger Störungen abgesehen, belustigen konnte. Die kräftigen Bewegungsspiele – der vieldeutige Ausdruck Spiele allein könnte zu Mißverständnissen führen – sind unserer heutigen Jugend so unbekannt geworden, daß die Schule für ihre Zöglinge nicht allein die Veranstaltung derselben übernehmen, sondern auch erst ihre Kenntnis ihnen vermitteln muß. Wenn unseren Schülern solche Spiele nicht eingeübt werden, spielen sie schon aus dem Grunde nicht, weil sie es nicht verstehen. Daß das etwas Unerfreuliches ist, und daß es meinetwegen auch nicht natürgemäß erscheint, wenn die Schule zum Spielen anhalten muß, ändert an der einmal vorliegenden Thatsache nichts. Es sollte aber allerdings bei Anordnung und Leitung der Spiele von vornherein grundsätzlich darauf Rücksicht genommen werden, daß der jetzige Zustand nicht als ein naturgemäßer anzusehen ist, und daß, soweit möglich, der frühere Zustand, wo die Jugend freiwillig spielte, wieder angestrebt werden muß. Grade beim Spiele gilt jeden- falls das Wort, daß ein guter Lehrer dahin streben muß, sich möglichst bald überflüssig zu machen. Schon bei früherer Gelegenheit (Jahrbuch 1893, 2. Jahrgang, S. 16) ist darauf aufmerksam gemacht, daß des- halb den Schülern beim Spiele möglichste Selbständigkeit und Freiheit zu lassen ist. Die Schüler einer Anstalt müssen sozusagen eine Spiel- gemeinde bilden, thunlichst unter eigener Leitung. Daneben sollten für das freiwillige Spielen sich eigene Spielvereine entwickeln, die sich einem bestimmten Spiele ausschließlich widmen. Das alles ist natür- lich nur unter der Bedingung möglich, daß vorher in der Schuljugend ein reger Spieleifer geweckt ist. Zu einen Wecken und Steigern des

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  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.




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Zitationshilfe: Koch, Konrad: Der Nutzen der Wettspiele. In: E. von Schenckendorff/ F. A. Schmidt (Hg.): Jahrbuch für Jugend- und Volksspiele. 3. Jahrgang. Leipzig, 1894. S. 38-43, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koch_wettspiele_1894/3>, abgerufen am 28.03.2024.