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Kopisch, August: Der Träumer. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–67. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Hätte Jemand ihm ein Messer durch das Herz gestoßen, er würde den Stoß nicht gefühlt haben. Die helle Morgensonne schien ihm in die offenen Augen, aber er war wie in finstrer Nacht. Er wankte hinaus, als wäre der feste Boden unter ihm nur Wind und Woge.

Angiolina, die mit der treuen Muhme am Fenster lauschte, rief ihm mit Zittern entgegen: Nun? --

Er blickte sie an, bleich wie der Tod, schlug sich mit der Hand aufs Herz und wankte stumm dahin.

Giovanni! Giovanni! rief ihm die Geliebte nach; aber er wandte sich nicht wie sonst. -- Er wankte fort, bis ihn der Schmerz gewaltsam zur Erde niederzog. Angiolina sah ihn sinken: da vermochte sie nicht mehr, sich zu halten, sie eilte die Treppe hinab und hin zu ihm. Unter einem Mandelbaume lag er wie entseelt. Den Hut hatte er von sich gestoßen, sein Gesicht an die Mutter Erde gedrückt.

Giovanni! Giovanni! rief Angiolina aus zitternder Brust, und warf sich ihm zu Häupten, aber Giovanni winkte ihr hinweg, nahm mit beiden Händen Staub von der Erde, und ließ ihn in seine blühenden Locken fallen. Giovanni! Giovanni! rief Angiolina und nahm sein Haupt in ihre schönen Hände: nicht so, nicht so! lieber, süßer Giovanni! Soll ich mit dir sterben? rief sie schluchzend, und der Strom von heißen Thränen, den sie über seine Stirn ergoß, schien ihn wieder zu beleben. Was ist geschehen? fragte sie,

Hätte Jemand ihm ein Messer durch das Herz gestoßen, er würde den Stoß nicht gefühlt haben. Die helle Morgensonne schien ihm in die offenen Augen, aber er war wie in finstrer Nacht. Er wankte hinaus, als wäre der feste Boden unter ihm nur Wind und Woge.

Angiolina, die mit der treuen Muhme am Fenster lauschte, rief ihm mit Zittern entgegen: Nun? —

Er blickte sie an, bleich wie der Tod, schlug sich mit der Hand aufs Herz und wankte stumm dahin.

Giovanni! Giovanni! rief ihm die Geliebte nach; aber er wandte sich nicht wie sonst. — Er wankte fort, bis ihn der Schmerz gewaltsam zur Erde niederzog. Angiolina sah ihn sinken: da vermochte sie nicht mehr, sich zu halten, sie eilte die Treppe hinab und hin zu ihm. Unter einem Mandelbaume lag er wie entseelt. Den Hut hatte er von sich gestoßen, sein Gesicht an die Mutter Erde gedrückt.

Giovanni! Giovanni! rief Angiolina aus zitternder Brust, und warf sich ihm zu Häupten, aber Giovanni winkte ihr hinweg, nahm mit beiden Händen Staub von der Erde, und ließ ihn in seine blühenden Locken fallen. Giovanni! Giovanni! rief Angiolina und nahm sein Haupt in ihre schönen Hände: nicht so, nicht so! lieber, süßer Giovanni! Soll ich mit dir sterben? rief sie schluchzend, und der Strom von heißen Thränen, den sie über seine Stirn ergoß, schien ihn wieder zu beleben. Was ist geschehen? fragte sie,

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[0023] Hätte Jemand ihm ein Messer durch das Herz gestoßen, er würde den Stoß nicht gefühlt haben. Die helle Morgensonne schien ihm in die offenen Augen, aber er war wie in finstrer Nacht. Er wankte hinaus, als wäre der feste Boden unter ihm nur Wind und Woge. Angiolina, die mit der treuen Muhme am Fenster lauschte, rief ihm mit Zittern entgegen: Nun? — Er blickte sie an, bleich wie der Tod, schlug sich mit der Hand aufs Herz und wankte stumm dahin. Giovanni! Giovanni! rief ihm die Geliebte nach; aber er wandte sich nicht wie sonst. — Er wankte fort, bis ihn der Schmerz gewaltsam zur Erde niederzog. Angiolina sah ihn sinken: da vermochte sie nicht mehr, sich zu halten, sie eilte die Treppe hinab und hin zu ihm. Unter einem Mandelbaume lag er wie entseelt. Den Hut hatte er von sich gestoßen, sein Gesicht an die Mutter Erde gedrückt. Giovanni! Giovanni! rief Angiolina aus zitternder Brust, und warf sich ihm zu Häupten, aber Giovanni winkte ihr hinweg, nahm mit beiden Händen Staub von der Erde, und ließ ihn in seine blühenden Locken fallen. Giovanni! Giovanni! rief Angiolina und nahm sein Haupt in ihre schönen Hände: nicht so, nicht so! lieber, süßer Giovanni! Soll ich mit dir sterben? rief sie schluchzend, und der Strom von heißen Thränen, den sie über seine Stirn ergoß, schien ihn wieder zu beleben. Was ist geschehen? fragte sie,

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Zitationshilfe: Kopisch, August: Der Träumer. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–67. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kopisch_traeumer_1910/23>, abgerufen am 25.04.2024.