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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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ersten Mißtöne des erwachenden Tages aus der Entfernung
herüberklang.

Als Franz Timpe um die nächste Ecke bog, erblickte er
endlich das Haus seines Vaters. Wie von Angst und Reue
erfüllt, bannte er seine Schritte und drückte sich an die
Häuser. Er befürchtete gesehen zu werden und schämte sich
seines Nachhausekommens um diese Stunde. Beim Weiter¬
schreiten richtete er den zaghaften Blick auf die gegenüberliegenden
Fenster, hinter welchen noch friedliche Ruhe herrschte; dann
rechts und links die Straße entlang. Er versuchte den
Nachtwächter zu erspähen, der ihm wie gewöhnlich das Haus
öffnen sollte.

Krusemeyer, ein bereits alter Beamter, dessen kugelrundes
Gesicht von einer silbergrauen Bartfraise umrahmt wurde, hatte
auf ihn gewartet. Er stand mit einem Schutzmann plaudernd
unter dem Thorbogen eines neuen Gebäudes auf der anderen
Seite der Straße und beobachtete das Näherkommen des
jungen Mannes. Seit fünfzehn Jahren verschloß er die Häuser
in diesem Revier, konnte sich aber nicht entsinnen, jemals
einen besseren Kunden gehabt zu haben, als Franz Timpe
es war. Er hielt sich daher mit Vorliebe in diesem Theile
der Straße auf, um sich das übliche Zehnpfennigstück nicht
entgehen zu lassen. Der Länge der Zeit, während welcher er
hier seinem nächtlichen Berufe obgelegen, hatte er es zu ver¬
danken, daß er mit den Geheimnissen der Hausbewohner ver¬
traut war, ihre Tugenden und Sünden, Freuden und Leiden
kannte. Wenn er hätte sprechen dürfen, was würde man da
vernommen haben! Vormittags holte er den verlorenen Schlaf
der Nacht nach. Nachmittags betrieb er sein Geschäft als
Flickschuster, bis die Zeit zum Abendappell ihn rief. Auf

erſten Mißtöne des erwachenden Tages aus der Entfernung
herüberklang.

Als Franz Timpe um die nächſte Ecke bog, erblickte er
endlich das Haus ſeines Vaters. Wie von Angſt und Reue
erfüllt, bannte er ſeine Schritte und drückte ſich an die
Häuſer. Er befürchtete geſehen zu werden und ſchämte ſich
ſeines Nachhauſekommens um dieſe Stunde. Beim Weiter¬
ſchreiten richtete er den zaghaften Blick auf die gegenüberliegenden
Fenſter, hinter welchen noch friedliche Ruhe herrſchte; dann
rechts und links die Straße entlang. Er verſuchte den
Nachtwächter zu erſpähen, der ihm wie gewöhnlich das Haus
öffnen ſollte.

Kruſemeyer, ein bereits alter Beamter, deſſen kugelrundes
Geſicht von einer ſilbergrauen Bartfraiſe umrahmt wurde, hatte
auf ihn gewartet. Er ſtand mit einem Schutzmann plaudernd
unter dem Thorbogen eines neuen Gebäudes auf der anderen
Seite der Straße und beobachtete das Näherkommen des
jungen Mannes. Seit fünfzehn Jahren verſchloß er die Häuſer
in dieſem Revier, konnte ſich aber nicht entſinnen, jemals
einen beſſeren Kunden gehabt zu haben, als Franz Timpe
es war. Er hielt ſich daher mit Vorliebe in dieſem Theile
der Straße auf, um ſich das übliche Zehnpfennigſtück nicht
entgehen zu laſſen. Der Länge der Zeit, während welcher er
hier ſeinem nächtlichen Berufe obgelegen, hatte er es zu ver¬
danken, daß er mit den Geheimniſſen der Hausbewohner ver¬
traut war, ihre Tugenden und Sünden, Freuden und Leiden
kannte. Wenn er hätte ſprechen dürfen, was würde man da
vernommen haben! Vormittags holte er den verlorenen Schlaf
der Nacht nach. Nachmittags betrieb er ſein Geſchäft als
Flickſchuſter, bis die Zeit zum Abendappell ihn rief. Auf

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[4/0016] erſten Mißtöne des erwachenden Tages aus der Entfernung herüberklang. Als Franz Timpe um die nächſte Ecke bog, erblickte er endlich das Haus ſeines Vaters. Wie von Angſt und Reue erfüllt, bannte er ſeine Schritte und drückte ſich an die Häuſer. Er befürchtete geſehen zu werden und ſchämte ſich ſeines Nachhauſekommens um dieſe Stunde. Beim Weiter¬ ſchreiten richtete er den zaghaften Blick auf die gegenüberliegenden Fenſter, hinter welchen noch friedliche Ruhe herrſchte; dann rechts und links die Straße entlang. Er verſuchte den Nachtwächter zu erſpähen, der ihm wie gewöhnlich das Haus öffnen ſollte. Kruſemeyer, ein bereits alter Beamter, deſſen kugelrundes Geſicht von einer ſilbergrauen Bartfraiſe umrahmt wurde, hatte auf ihn gewartet. Er ſtand mit einem Schutzmann plaudernd unter dem Thorbogen eines neuen Gebäudes auf der anderen Seite der Straße und beobachtete das Näherkommen des jungen Mannes. Seit fünfzehn Jahren verſchloß er die Häuſer in dieſem Revier, konnte ſich aber nicht entſinnen, jemals einen beſſeren Kunden gehabt zu haben, als Franz Timpe es war. Er hielt ſich daher mit Vorliebe in dieſem Theile der Straße auf, um ſich das übliche Zehnpfennigſtück nicht entgehen zu laſſen. Der Länge der Zeit, während welcher er hier ſeinem nächtlichen Berufe obgelegen, hatte er es zu ver¬ danken, daß er mit den Geheimniſſen der Hausbewohner ver¬ traut war, ihre Tugenden und Sünden, Freuden und Leiden kannte. Wenn er hätte ſprechen dürfen, was würde man da vernommen haben! Vormittags holte er den verlorenen Schlaf der Nacht nach. Nachmittags betrieb er ſein Geſchäft als Flickſchuſter, bis die Zeit zum Abendappell ihn rief. Auf

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/16>, abgerufen am 25.04.2024.