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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Der heutige Besitzer des kleinen Hauses hatte erst spät
geheirathet. Nachdem seine zwei Brüder, die ebenfalls in
der Werkstatt des Vaters thätig gewesen waren, das Zeitliche
gesegnet hatten, und seine Stellung im Hause eine völlig
andere geworden, war der Entschluß in ihm gereift, seine
langjährige Braut heimzuführen. Als das geschah, zählte er
bereits sechsunddreißig Jahre. Sein erstes Kind war ein Mädchen
gewesen, das aber gleich nach der Geburt gestorben war. Dann
war sein Sohn gekommen und nach diesem abermals ein Mäd¬
chen, welches das zehnte Jahr erreicht hatte und dann eben¬
falls den Eltern entrissen wurde. Der Schmerz Johannes
Timpes und seiner getreuen Gattin war ein unaussprechlicher
gewesen. Als sie aber sahen, wie ihr Sohn zu einem hüb¬
schen Knaben heranwuchs und vortrefflich gedieh, faßten sie
sich allmälig und übertrugen die Liebe, die sie für die blühende
Tochter an den Tag gelegt hatten, auf ihn allein. Sie über¬
sahen seine Schwächen, die sich im Hange zu allerlei Unarten,
zum Verleugnen der Wahrheitsliebe, zur Ränkesüchtelei und
zur Trägheit ausprägten; trösteten sich mit der Selbst¬
lüge, daß dieser böse Keim sich dereinst beim Empor¬
schießen in die Frucht verlieren werde. War Franz doch ihr
Stolz, der Träger des Namens seines Vaters, die Verwirk¬
lichung ihrer ganzen Zukunftspläne!

"Handwerker darf der Junge nicht werden, er soll sich
sein Brod leichter verdienen", pflegte Johannes Timpe in den
Stunden nach Feierabend zu Frau Carolinen zu sagen. Und
die getreue Ehehälfte ließ die klappernden Stricknadeln auf
ein paar Augenblicke ruhen, blickte im Zwielicht sinnend auf den
kleinen Winkel vor dem Fenster hinaus und erwiderte stolzbeseelt:
"In dem Jungen steckt etwas, der muß 'was Großes werden."

Der heutige Beſitzer des kleinen Hauſes hatte erſt ſpät
geheirathet. Nachdem ſeine zwei Brüder, die ebenfalls in
der Werkſtatt des Vaters thätig geweſen waren, das Zeitliche
geſegnet hatten, und ſeine Stellung im Hauſe eine völlig
andere geworden, war der Entſchluß in ihm gereift, ſeine
langjährige Braut heimzuführen. Als das geſchah, zählte er
bereits ſechsunddreißig Jahre. Sein erſtes Kind war ein Mädchen
geweſen, das aber gleich nach der Geburt geſtorben war. Dann
war ſein Sohn gekommen und nach dieſem abermals ein Mäd¬
chen, welches das zehnte Jahr erreicht hatte und dann eben¬
falls den Eltern entriſſen wurde. Der Schmerz Johannes
Timpes und ſeiner getreuen Gattin war ein unausſprechlicher
geweſen. Als ſie aber ſahen, wie ihr Sohn zu einem hüb¬
ſchen Knaben heranwuchs und vortrefflich gedieh, faßten ſie
ſich allmälig und übertrugen die Liebe, die ſie für die blühende
Tochter an den Tag gelegt hatten, auf ihn allein. Sie über¬
ſahen ſeine Schwächen, die ſich im Hange zu allerlei Unarten,
zum Verleugnen der Wahrheitsliebe, zur Ränkeſüchtelei und
zur Trägheit ausprägten; tröſteten ſich mit der Selbſt¬
lüge, daß dieſer böſe Keim ſich dereinſt beim Empor¬
ſchießen in die Frucht verlieren werde. War Franz doch ihr
Stolz, der Träger des Namens ſeines Vaters, die Verwirk¬
lichung ihrer ganzen Zukunftspläne!

„Handwerker darf der Junge nicht werden, er ſoll ſich
ſein Brod leichter verdienen“, pflegte Johannes Timpe in den
Stunden nach Feierabend zu Frau Carolinen zu ſagen. Und
die getreue Ehehälfte ließ die klappernden Stricknadeln auf
ein paar Augenblicke ruhen, blickte im Zwielicht ſinnend auf den
kleinen Winkel vor dem Fenſter hinaus und erwiderte ſtolzbeſeelt:
„In dem Jungen ſteckt etwas, der muß 'was Großes werden.“

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[14/0026] Der heutige Beſitzer des kleinen Hauſes hatte erſt ſpät geheirathet. Nachdem ſeine zwei Brüder, die ebenfalls in der Werkſtatt des Vaters thätig geweſen waren, das Zeitliche geſegnet hatten, und ſeine Stellung im Hauſe eine völlig andere geworden, war der Entſchluß in ihm gereift, ſeine langjährige Braut heimzuführen. Als das geſchah, zählte er bereits ſechsunddreißig Jahre. Sein erſtes Kind war ein Mädchen geweſen, das aber gleich nach der Geburt geſtorben war. Dann war ſein Sohn gekommen und nach dieſem abermals ein Mäd¬ chen, welches das zehnte Jahr erreicht hatte und dann eben¬ falls den Eltern entriſſen wurde. Der Schmerz Johannes Timpes und ſeiner getreuen Gattin war ein unausſprechlicher geweſen. Als ſie aber ſahen, wie ihr Sohn zu einem hüb¬ ſchen Knaben heranwuchs und vortrefflich gedieh, faßten ſie ſich allmälig und übertrugen die Liebe, die ſie für die blühende Tochter an den Tag gelegt hatten, auf ihn allein. Sie über¬ ſahen ſeine Schwächen, die ſich im Hange zu allerlei Unarten, zum Verleugnen der Wahrheitsliebe, zur Ränkeſüchtelei und zur Trägheit ausprägten; tröſteten ſich mit der Selbſt¬ lüge, daß dieſer böſe Keim ſich dereinſt beim Empor¬ ſchießen in die Frucht verlieren werde. War Franz doch ihr Stolz, der Träger des Namens ſeines Vaters, die Verwirk¬ lichung ihrer ganzen Zukunftspläne! „Handwerker darf der Junge nicht werden, er ſoll ſich ſein Brod leichter verdienen“, pflegte Johannes Timpe in den Stunden nach Feierabend zu Frau Carolinen zu ſagen. Und die getreue Ehehälfte ließ die klappernden Stricknadeln auf ein paar Augenblicke ruhen, blickte im Zwielicht ſinnend auf den kleinen Winkel vor dem Fenſter hinaus und erwiderte ſtolzbeſeelt: „In dem Jungen ſteckt etwas, der muß 'was Großes werden.“

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/26>, abgerufen am 29.03.2024.