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Krieger, Ernst: [Lebenserinnerungen des Ernst Krieger]. Um 1907.

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II Kindheit und Schulzeit.

Ich hin, wie schon gesagt, am 27 Mai 1830 geboren. Der mir gegebene Vorname Ernst sollte wohl eine Mahnung für das Leben sein. Denn er war nicht in der Verwandtschaft und auch mein Taufpathe trug ihn nicht. Mein Pathe war der Dr. der Medizin Karl Schultz mit dem Beinamen Bipontinus, den er sich als berühmter Botaniker zum Unterschied von Fachgenossen beilegte. Ich lernte ihn erst kennen, als er zu Erlangen in meine Studentenbude trat und mir auf die Frage, wer er sei, vorwarf: Was? Du kennst Deinen Pathen nicht? - Worauf ich ihm kalt erwiederte: Daran ist mein Pathe selbst schuld. Er starb zu Deidesheim als Arzt. Meine Pathin sah ich nie. Sie war wahrscheinlich meine Cousine Sophie Silly und starb zu Düsseldorf als Ehefrau des Regierungsrathes und westfälischen Originales Sack, der um Menschen kennen zu lernen grundsätzlich nur in der 4. Eisenbahnklasse fuhr und mindestens 20 Kinder hinterliess.

Aus den frühen Kinderjahren dämmern nur noch einzelne Erinnerungen in meinem Gedächtnisse, so z.B. dass mich meine Grossmutter wie ein Bündel unter dem Arm die Treppe hinaufschleppte oder dass ich zu meinem Leidwesen in eine sogen. Strickschule beseitigt war, die von Mamsell Bayl im dritten Stockwerk etabliert war. Da sassen auf Bänken viele Mädchen und lernten stricken, ich der einzige Bube darunter half die eintretende Lehrerin begrüssen: "bon jour Mamsell Bayl!", was in immer gleichem Tonfalle und im Chor geschah. Dann sollte ich stille sitzen ohne Strickzeug und ohne irgend eine Beschäftigung, zog den Nachbarinnen die Stricknadeln heraus, bekam Schelte und dazu Schläge, so dass mir die Strickschule ein Greuel war. Eines Tages so scheint mir muss ich entwischt und bei der Eile der Flucht die hohe Treppe hinuntergestürzt oder vielmehr hinuntergekugelt sein, denn ich weiss heute noch, dass ich unten heil ankam, untersucht und nicht gehauen wurde. Das Hinunterkugeln erklärt sich vielleicht daraus,

II Kindheit und Schulzeit.

Ich hin, wie schon gesagt, am 27 Mai 1830 geboren. Der mir gegebene Vorname Ernst sollte wohl eine Mahnung für das Leben sein. Denn er war nicht in der Verwandtschaft und auch mein Taufpathe trug ihn nicht. Mein Pathe war der Dr. der Medizin Karl Schultz mit dem Beinamen Bipontinus, den er sich als berühmter Botaniker zum Unterschied von Fachgenossen beilegte. Ich lernte ihn erst kennen, als er zu Erlangen in meine Studentenbude trat und mir auf die Frage, wer er sei, vorwarf: Was? Du kennst Deinen Pathen nicht? – Worauf ich ihm kalt erwiederte: Daran ist mein Pathe selbst schuld. Er starb zu Deidesheim als Arzt. Meine Pathin sah ich nie. Sie war wahrscheinlich meine Cousine Sophie Silly und starb zu Düsseldorf als Ehefrau des Regierungsrathes und westfälischen Originales Sack, der um Menschen kennen zu lernen grundsätzlich nur in der 4. Eisenbahnklasse fuhr und mindestens 20 Kinder hinterliess.

Aus den frühen Kinderjahren dämmern nur noch einzelne Erinnerungen in meinem Gedächtnisse, so z.B. dass mich meine Grossmutter wie ein Bündel unter dem Arm die Treppe hinaufschleppte oder dass ich zu meinem Leidwesen in eine sogen. Strickschule beseitigt war, die von Mamsell Bayl im dritten Stockwerk etabliert war. Da sassen auf Bänken viele Mädchen und lernten stricken, ich der einzige Bube darunter half die eintretende Lehrerin begrüssen: ”bon jour Mamsell Bayl!“, was in immer gleichem Tonfalle und im Chor geschah. Dann sollte ich stille sitzen ohne Strickzeug und ohne irgend eine Beschäftigung, zog den Nachbarinnen die Stricknadeln heraus, bekam Schelte und dazu Schläge, so dass mir die Strickschule ein Greuel war. Eines Tages so scheint mir muss ich entwischt und bei der Eile der Flucht die hohe Treppe hinuntergestürzt oder vielmehr hinuntergekugelt sein, denn ich weiss heute noch, dass ich unten heil ankam, untersucht und nicht gehauen wurde. Das Hinunterkugeln erklärt sich vielleicht daraus,

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        <p>Aus den frühen Kinderjahren dämmern nur noch einzelne Erinnerungen in meinem Gedächtnisse, so z.B. dass mich meine Grossmutter wie ein Bündel unter dem Arm die Treppe hinaufschleppte oder dass ich zu meinem Leidwesen in eine sogen. Strickschule beseitigt war, die von Mamsell Bayl im dritten Stockwerk etabliert war. Da sassen auf Bänken viele Mädchen und lernten stricken, ich der einzige Bube darunter half die eintretende Lehrerin begrüssen: &#x201D;bon jour Mamsell Bayl!&#x201C;, was in immer gleichem Tonfalle und im Chor geschah. Dann sollte ich stille sitzen ohne Strickzeug und ohne irgend eine Beschäftigung, zog den Nachbarinnen die Stricknadeln heraus, bekam Schelte und dazu Schläge, so dass mir die Strickschule ein Greuel war. Eines Tages so scheint mir muss ich entwischt und bei der Eile der Flucht die hohe Treppe hinuntergestürzt oder vielmehr hinuntergekugelt sein, denn ich weiss heute noch, dass ich unten heil ankam, untersucht und <hi rendition="#u">nicht</hi> gehauen wurde. Das Hinunterkugeln erklärt sich vielleicht daraus,
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[13/0013] II Kindheit und Schulzeit. Ich hin, wie schon gesagt, am 27 Mai 1830 geboren. Der mir gegebene Vorname Ernst sollte wohl eine Mahnung für das Leben sein. Denn er war nicht in der Verwandtschaft und auch mein Taufpathe trug ihn nicht. Mein Pathe war der Dr. der Medizin Karl Schultz mit dem Beinamen Bipontinus, den er sich als berühmter Botaniker zum Unterschied von Fachgenossen beilegte. Ich lernte ihn erst kennen, als er zu Erlangen in meine Studentenbude trat und mir auf die Frage, wer er sei, vorwarf: Was? Du kennst Deinen Pathen nicht? – Worauf ich ihm kalt erwiederte: Daran ist mein Pathe selbst schuld. Er starb zu Deidesheim als Arzt. Meine Pathin sah ich nie. Sie war wahrscheinlich meine Cousine Sophie Silly und starb zu Düsseldorf als Ehefrau des Regierungsrathes und westfälischen Originales Sack, der um Menschen kennen zu lernen grundsätzlich nur in der 4. Eisenbahnklasse fuhr und mindestens 20 Kinder hinterliess. Aus den frühen Kinderjahren dämmern nur noch einzelne Erinnerungen in meinem Gedächtnisse, so z.B. dass mich meine Grossmutter wie ein Bündel unter dem Arm die Treppe hinaufschleppte oder dass ich zu meinem Leidwesen in eine sogen. Strickschule beseitigt war, die von Mamsell Bayl im dritten Stockwerk etabliert war. Da sassen auf Bänken viele Mädchen und lernten stricken, ich der einzige Bube darunter half die eintretende Lehrerin begrüssen: ”bon jour Mamsell Bayl!“, was in immer gleichem Tonfalle und im Chor geschah. Dann sollte ich stille sitzen ohne Strickzeug und ohne irgend eine Beschäftigung, zog den Nachbarinnen die Stricknadeln heraus, bekam Schelte und dazu Schläge, so dass mir die Strickschule ein Greuel war. Eines Tages so scheint mir muss ich entwischt und bei der Eile der Flucht die hohe Treppe hinuntergestürzt oder vielmehr hinuntergekugelt sein, denn ich weiss heute noch, dass ich unten heil ankam, untersucht und nicht gehauen wurde. Das Hinunterkugeln erklärt sich vielleicht daraus,

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Zitationshilfe: Krieger, Ernst: [Lebenserinnerungen des Ernst Krieger]. Um 1907, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krieger_lebenserinnerungen_1907/13>, abgerufen am 28.03.2024.