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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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bewegliches. Ein Blick gegen Himmel bleibt oft der einzige Ruhepunkt.
Ruhepunkt? mit nichten! Denn was soll er zu einer Stadt sagen, wo
im dritten Gestock der Schlosser hämmert, wo ein Schmiedefeuer glüht
in jener Dachetage, die sonst nur das Lämpchen des Poeten kennt?
Ja, das Haus ist hier kein Erbe auf Kind und Kindeskind; die
Fabrik hat's geliefert, die Fabrik verbraucht's als vorübergehendes
Werkzeug. So ist auch der Weg zum Himmel nicht frei, Lärm oben
wie unten, Hammer dröhnen und Funken sprühen zu den Fenstern
einer Höhe heraus, in welcher der Zeisig singen, von welcher ein Blatt
des Blumenstocks niederwehen sollte.

An einer Straßenecke, in welche der Wanderer endlich einbog, stand
ein kleines, reingekleidetes Mädchen, weinend, ein Zettelchen in der
Hand. Es hatte verschiedene Versuche gemacht, von den Passanten,
wie es schien, eine Auskunft zu erhalten, und stets unglückliche. Alles
rannte achtlos an dem kleinen Wesen vorbei und ließ es stehen. End¬
lich zupfte es auch diesen Ankömmling am Rockärmel, und blickte mit
hellblauen Augen voll Wasser bittend zu ihm auf. Die Kleine mußte
ihr Stimmchen wiederholt anstrengen, um sich in dem Straßenlärm
hörbar zu machen. Sie bat um den Weg in irgend eine Street nach
der Common-School irgend eines Mr. Mockingbird: zugleich wies sie
ihren Zettel vor, worauf die Adresse stand. Der junge Mann wußte
nun freilich nicht besser Bescheid, als das verirrte Kind selbst. Aber
augenblicklich ergriff er den Gedanken, der sich hier darbot. Ist es
möglich, rief er sich zu, mit so viel Detail des Markts sich zu balgen,
und nicht an die Volksschule zu denken, an den einfachen geistigen
Punkt, aus dem das Ganze begriffen wird? Common-School, das
ist das Schlagwort! Das ist der Ort, wo der Fremde stets zuerst
Landeskunde studiren soll! Komm, mein Kind! Er warf sich mit dem
Mädchen rasch in den nächsten Omnibus, und war fast so glücklich
wie dieses selbst über das gefundene Auskunftsmittel.

Die Fahrt begann mit einer unfreundlichen Scene. Einer der
Mitfahrenden hatte seine Beine lang vor sich ausgestreckt und eben an
jene Stelle der Wagenlehne gestemmt, welche das einsteigende Paar
zu besetzen hatte. Er schien indeß nicht geneigt, seine Bequemlichkeit
aufzugeben, sondern räumte dem kleinen Mädchen, seinem neuen
vis-a-vis, nur so viel ein, daß er ihr Köpfchen zwischen seine beiden

bewegliches. Ein Blick gegen Himmel bleibt oft der einzige Ruhepunkt.
Ruhepunkt? mit nichten! Denn was ſoll er zu einer Stadt ſagen, wo
im dritten Geſtock der Schloſſer hämmert, wo ein Schmiedefeuer glüht
in jener Dachetage, die ſonſt nur das Lämpchen des Poeten kennt?
Ja, das Haus iſt hier kein Erbe auf Kind und Kindeskind; die
Fabrik hat's geliefert, die Fabrik verbraucht's als vorübergehendes
Werkzeug. So iſt auch der Weg zum Himmel nicht frei, Lärm oben
wie unten, Hammer dröhnen und Funken ſprühen zu den Fenſtern
einer Höhe heraus, in welcher der Zeiſig ſingen, von welcher ein Blatt
des Blumenſtocks niederwehen ſollte.

An einer Straßenecke, in welche der Wanderer endlich einbog, ſtand
ein kleines, reingekleidetes Mädchen, weinend, ein Zettelchen in der
Hand. Es hatte verſchiedene Verſuche gemacht, von den Paſſanten,
wie es ſchien, eine Auskunft zu erhalten, und ſtets unglückliche. Alles
rannte achtlos an dem kleinen Weſen vorbei und ließ es ſtehen. End¬
lich zupfte es auch dieſen Ankömmling am Rockärmel, und blickte mit
hellblauen Augen voll Waſſer bittend zu ihm auf. Die Kleine mußte
ihr Stimmchen wiederholt anſtrengen, um ſich in dem Straßenlärm
hörbar zu machen. Sie bat um den Weg in irgend eine Street nach
der Common-School irgend eines Mr. Mockingbird: zugleich wies ſie
ihren Zettel vor, worauf die Adreſſe ſtand. Der junge Mann wußte
nun freilich nicht beſſer Beſcheid, als das verirrte Kind ſelbſt. Aber
augenblicklich ergriff er den Gedanken, der ſich hier darbot. Iſt es
möglich, rief er ſich zu, mit ſo viel Detail des Markts ſich zu balgen,
und nicht an die Volksſchule zu denken, an den einfachen geiſtigen
Punkt, aus dem das Ganze begriffen wird? Common-School, das
iſt das Schlagwort! Das iſt der Ort, wo der Fremde ſtets zuerſt
Landeskunde ſtudiren ſoll! Komm, mein Kind! Er warf ſich mit dem
Mädchen raſch in den nächſten Omnibus, und war faſt ſo glücklich
wie dieſes ſelbſt über das gefundene Auskunftsmittel.

Die Fahrt begann mit einer unfreundlichen Scene. Einer der
Mitfahrenden hatte ſeine Beine lang vor ſich ausgeſtreckt und eben an
jene Stelle der Wagenlehne geſtemmt, welche das einſteigende Paar
zu beſetzen hatte. Er ſchien indeß nicht geneigt, ſeine Bequemlichkeit
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[14/0032] bewegliches. Ein Blick gegen Himmel bleibt oft der einzige Ruhepunkt. Ruhepunkt? mit nichten! Denn was ſoll er zu einer Stadt ſagen, wo im dritten Geſtock der Schloſſer hämmert, wo ein Schmiedefeuer glüht in jener Dachetage, die ſonſt nur das Lämpchen des Poeten kennt? Ja, das Haus iſt hier kein Erbe auf Kind und Kindeskind; die Fabrik hat's geliefert, die Fabrik verbraucht's als vorübergehendes Werkzeug. So iſt auch der Weg zum Himmel nicht frei, Lärm oben wie unten, Hammer dröhnen und Funken ſprühen zu den Fenſtern einer Höhe heraus, in welcher der Zeiſig ſingen, von welcher ein Blatt des Blumenſtocks niederwehen ſollte. An einer Straßenecke, in welche der Wanderer endlich einbog, ſtand ein kleines, reingekleidetes Mädchen, weinend, ein Zettelchen in der Hand. Es hatte verſchiedene Verſuche gemacht, von den Paſſanten, wie es ſchien, eine Auskunft zu erhalten, und ſtets unglückliche. Alles rannte achtlos an dem kleinen Weſen vorbei und ließ es ſtehen. End¬ lich zupfte es auch dieſen Ankömmling am Rockärmel, und blickte mit hellblauen Augen voll Waſſer bittend zu ihm auf. Die Kleine mußte ihr Stimmchen wiederholt anſtrengen, um ſich in dem Straßenlärm hörbar zu machen. Sie bat um den Weg in irgend eine Street nach der Common-School irgend eines Mr. Mockingbird: zugleich wies ſie ihren Zettel vor, worauf die Adreſſe ſtand. Der junge Mann wußte nun freilich nicht beſſer Beſcheid, als das verirrte Kind ſelbſt. Aber augenblicklich ergriff er den Gedanken, der ſich hier darbot. Iſt es möglich, rief er ſich zu, mit ſo viel Detail des Markts ſich zu balgen, und nicht an die Volksſchule zu denken, an den einfachen geiſtigen Punkt, aus dem das Ganze begriffen wird? Common-School, das iſt das Schlagwort! Das iſt der Ort, wo der Fremde ſtets zuerſt Landeskunde ſtudiren ſoll! Komm, mein Kind! Er warf ſich mit dem Mädchen raſch in den nächſten Omnibus, und war faſt ſo glücklich wie dieſes ſelbſt über das gefundene Auskunftsmittel. Die Fahrt begann mit einer unfreundlichen Scene. Einer der Mitfahrenden hatte ſeine Beine lang vor ſich ausgeſtreckt und eben an jene Stelle der Wagenlehne geſtemmt, welche das einſteigende Paar zu beſetzen hatte. Er ſchien indeß nicht geneigt, ſeine Bequemlichkeit aufzugeben, ſondern räumte dem kleinen Mädchen, ſeinem neuen vis-à-vis, nur ſo viel ein, daß er ihr Köpfchen zwiſchen ſeine beiden

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/32>, abgerufen am 25.04.2024.