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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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haus gehen, oder vielleicht noch lieber vorher zum Chirurgus. Ich
weiß nicht, wo ich zuerst hin soll. -- Christine wußte es auch nicht.
Ihre Gedanken waren allein darauf gerichtet, wie sie es angreifen solle,
um einen recht großen Brief zu schreiben, mit dem ihr Schatz zufrie¬
den sein müßte, obgleich sie ihn darin für seinen unmanierlichen Arg¬
wohn recht heruntermachen wollte. Sie dachte aber, sie wolle erst
den Markttag vorübergehen lassen, um ihm dann schreiben zu können,
daß sie nicht zum Tanze gegangen, sondern den ganzen Tag und Abend
daheim geblieben sei.

Der Invalide schüttelte zu Friedrich's Betheuerungen hartnäckig
den Kopf und sagte beim Wein zu der Bäckersfrau: Wenn so ein
junger Mensch verliebt ist, so meint er, es gebe in der Welt nichts
als seinen Gegenstand, und wenn er einmal zehn Jahr' und drüber
verheirathet ist, so kann er oft gar nicht begreifen, warum er grad
die genommen hat, da's doch so viel Andere gegeben hätte.

Beständigkeit ist doch eine Tugend, erwiderte die Bäckerin. Aber
arg ist mir's einmal, daß der erste Funke zu dem Brand in meinem
Haus hat angehen müssen. Wenn ich das vorausgesehen hätt', so
hätt' ich mich lieber ohne mein Dötle beholfen, und dann wär' sie
ihm vielleicht in Jahr und Tag nicht vor's Aug' kommen. Mir
schwant's, das Ding geht zu keinem guten End'.

Wider das Schicksal ist kein Kraut gewachsen, versetzte der In¬
valide. Das ist im Leben wie in der Schlacht: an Einem fährt's
vorüber, und den Andern trifft's.

Es kamen noch weitere Briefe von Friedrich, die sich alle um ei¬
nen und denselben Angelpunkt drehten. Von seinem eignen Ergehen schrieb
er kein Wort, auch nicht von dem, was er im fremden Lande zu se¬
hen und zu hören bekam. Dagegen zeigten seine Briefe die Merk¬
würdigkeit, daß er fortwährend mit der Jahrszahl auf gespanntem
Fuße stand. Seine Hand schien einen unbezwinglichen Widerwillen
gegen dieselbe zu empfinden. In allen diesen Briefen hatte er immer
zuerst die falsche Zahl hingeschrieben, dann ausgestrichen und die rich¬
tige darübergesetzt; in einem war sogar das falsche Datum unbe¬
sichtigt stehen geblieben. Allerdings ein unerheblicher Umstand für
ein Mädchen, das kein andres Datum kannte als "diesen Tag," an
welchem sie ihrem Liebsten schrieb.


haus gehen, oder vielleicht noch lieber vorher zum Chirurgus. Ich
weiß nicht, wo ich zuerſt hin ſoll. — Chriſtine wußte es auch nicht.
Ihre Gedanken waren allein darauf gerichtet, wie ſie es angreifen ſolle,
um einen recht großen Brief zu ſchreiben, mit dem ihr Schatz zufrie¬
den ſein müßte, obgleich ſie ihn darin für ſeinen unmanierlichen Arg¬
wohn recht heruntermachen wollte. Sie dachte aber, ſie wolle erſt
den Markttag vorübergehen laſſen, um ihm dann ſchreiben zu können,
daß ſie nicht zum Tanze gegangen, ſondern den ganzen Tag und Abend
daheim geblieben ſei.

Der Invalide ſchüttelte zu Friedrich's Betheuerungen hartnäckig
den Kopf und ſagte beim Wein zu der Bäckersfrau: Wenn ſo ein
junger Menſch verliebt iſt, ſo meint er, es gebe in der Welt nichts
als ſeinen Gegenſtand, und wenn er einmal zehn Jahr' und drüber
verheirathet iſt, ſo kann er oft gar nicht begreifen, warum er grad
die genommen hat, da's doch ſo viel Andere gegeben hätte.

Beſtändigkeit iſt doch eine Tugend, erwiderte die Bäckerin. Aber
arg iſt mir's einmal, daß der erſte Funke zu dem Brand in meinem
Haus hat angehen müſſen. Wenn ich das vorausgeſehen hätt', ſo
hätt' ich mich lieber ohne mein Dötle beholfen, und dann wär' ſie
ihm vielleicht in Jahr und Tag nicht vor's Aug' kommen. Mir
ſchwant's, das Ding geht zu keinem guten End'.

Wider das Schickſal iſt kein Kraut gewachſen, verſetzte der In¬
valide. Das iſt im Leben wie in der Schlacht: an Einem fährt's
vorüber, und den Andern trifft's.

Es kamen noch weitere Briefe von Friedrich, die ſich alle um ei¬
nen und denſelben Angelpunkt drehten. Von ſeinem eignen Ergehen ſchrieb
er kein Wort, auch nicht von dem, was er im fremden Lande zu ſe¬
hen und zu hören bekam. Dagegen zeigten ſeine Briefe die Merk¬
würdigkeit, daß er fortwährend mit der Jahrszahl auf geſpanntem
Fuße ſtand. Seine Hand ſchien einen unbezwinglichen Widerwillen
gegen dieſelbe zu empfinden. In allen dieſen Briefen hatte er immer
zuerſt die falſche Zahl hingeſchrieben, dann ausgeſtrichen und die rich¬
tige darübergeſetzt; in einem war ſogar das falſche Datum unbe¬
ſichtigt ſtehen geblieben. Allerdings ein unerheblicher Umſtand für
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[160/0176] haus gehen, oder vielleicht noch lieber vorher zum Chirurgus. Ich weiß nicht, wo ich zuerſt hin ſoll. — Chriſtine wußte es auch nicht. Ihre Gedanken waren allein darauf gerichtet, wie ſie es angreifen ſolle, um einen recht großen Brief zu ſchreiben, mit dem ihr Schatz zufrie¬ den ſein müßte, obgleich ſie ihn darin für ſeinen unmanierlichen Arg¬ wohn recht heruntermachen wollte. Sie dachte aber, ſie wolle erſt den Markttag vorübergehen laſſen, um ihm dann ſchreiben zu können, daß ſie nicht zum Tanze gegangen, ſondern den ganzen Tag und Abend daheim geblieben ſei. Der Invalide ſchüttelte zu Friedrich's Betheuerungen hartnäckig den Kopf und ſagte beim Wein zu der Bäckersfrau: Wenn ſo ein junger Menſch verliebt iſt, ſo meint er, es gebe in der Welt nichts als ſeinen Gegenſtand, und wenn er einmal zehn Jahr' und drüber verheirathet iſt, ſo kann er oft gar nicht begreifen, warum er grad die genommen hat, da's doch ſo viel Andere gegeben hätte. Beſtändigkeit iſt doch eine Tugend, erwiderte die Bäckerin. Aber arg iſt mir's einmal, daß der erſte Funke zu dem Brand in meinem Haus hat angehen müſſen. Wenn ich das vorausgeſehen hätt', ſo hätt' ich mich lieber ohne mein Dötle beholfen, und dann wär' ſie ihm vielleicht in Jahr und Tag nicht vor's Aug' kommen. Mir ſchwant's, das Ding geht zu keinem guten End'. Wider das Schickſal iſt kein Kraut gewachſen, verſetzte der In¬ valide. Das iſt im Leben wie in der Schlacht: an Einem fährt's vorüber, und den Andern trifft's. Es kamen noch weitere Briefe von Friedrich, die ſich alle um ei¬ nen und denſelben Angelpunkt drehten. Von ſeinem eignen Ergehen ſchrieb er kein Wort, auch nicht von dem, was er im fremden Lande zu ſe¬ hen und zu hören bekam. Dagegen zeigten ſeine Briefe die Merk¬ würdigkeit, daß er fortwährend mit der Jahrszahl auf geſpanntem Fuße ſtand. Seine Hand ſchien einen unbezwinglichen Widerwillen gegen dieſelbe zu empfinden. In allen dieſen Briefen hatte er immer zuerſt die falſche Zahl hingeſchrieben, dann ausgeſtrichen und die rich¬ tige darübergeſetzt; in einem war ſogar das falſche Datum unbe¬ ſichtigt ſtehen geblieben. Allerdings ein unerheblicher Umſtand für ein Mädchen, das kein andres Datum kannte als „dieſen Tag,“ an welchem ſie ihrem Liebſten ſchrieb.

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/176>, abgerufen am 29.03.2024.