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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich.
schehen ist, ist der Kreis der den Einzelstaaten obliegenden Auf-
gaben und der dazu erforderlichen Befugnisse verengt. Würde
das Reich die Gesammtheit der staatlichen Aufgaben in dieser Weise
selbst übernehmen, so würde die Existenz der Einzelstaaten beendigt
sein und die Fortdauer ihrer Namen wäre eine historische Remini-
scenz wie es heut die Namen der mittelalterlichen Herzogthümer
und Grafschaften sind. Höchstens als Provinzen des Reichs könnten
die Gebiete der Einzelstaaten eine Bedeutung behalten.

2) Für einen großen Kreis von Hoheitsrechten des Reiches
sind die Einzelstaaten Selbstverwaltungs-Körper. Der
Begriff der Selbstverwaltung wird hier in einem Sinne genommen,
der von der herrschenden Lehre erheblich abweicht, und da im
Folgenden dieser Begriff vielfach Verwendung finden wird, so ist
es unerläßlich, seinen Inhalt hier näher festzustellen.

Das Wort "Selbstverwaltung" ist in Nachbildung des eng-
lischen Ausdrucks selfgovernment vorzugsweise durch die zahlreichen
ausgezeichneten Schriften Gneist's über das englische Verwal-
tungsrecht in allgemeinen Gebrauch gekommen und zu einem poli-
tischen Schlagworte geworden. Gneist selbst hat fast ausschließlich
die politische Bedeutung der Verwaltung mittelst unbesoldeter
Ehrenämter entwickelt und den Gegensatz einerseits zu einer büreau-
kratischen Verwaltung durch besoldete Berufsbeamte andererseits
zu der Thätigkeit beschließender, aber nicht verwaltender, Deputir-
ten-Collegien anschaulich gemacht. Er hat stets mit dem größten
Nachdruck hervorgehoben, daß das System der Selbstverwaltung
der "Zwischenbau zwischen Staat und Gesellschaft" und das in
England bewährt gefundene Mittel sei, um die collidirenden egoi-
stischen Interessen der verschiedenen socialen Klassen einer staatlichen
Rechtsordnung zu unterwerfen. Im Hinblick auf die positive Ge-
staltung der englischen Einrichtungen definirt er den Begriff des
selfgovernment als
"eine innere Landesverwaltung der Kreise und Ortsge-
meinden nach den Gesetzen des Landes durch persön-
liche Ehrenämter
, unter Aufbringung der Kosten
durch communale Grundsteuern"

(Selfgovernment, Communalverfassung. 3. Aufl. S. 882 fg.).

Gneist wird nicht müde, in allen seinen Schriften hervorzu-
heben, daß die Selbstverwaltung nicht der Gegensatz der Staats-

§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ſchehen iſt, iſt der Kreis der den Einzelſtaaten obliegenden Auf-
gaben und der dazu erforderlichen Befugniſſe verengt. Würde
das Reich die Geſammtheit der ſtaatlichen Aufgaben in dieſer Weiſe
ſelbſt übernehmen, ſo würde die Exiſtenz der Einzelſtaaten beendigt
ſein und die Fortdauer ihrer Namen wäre eine hiſtoriſche Remini-
ſcenz wie es heut die Namen der mittelalterlichen Herzogthümer
und Grafſchaften ſind. Höchſtens als Provinzen des Reichs könnten
die Gebiete der Einzelſtaaten eine Bedeutung behalten.

2) Für einen großen Kreis von Hoheitsrechten des Reiches
ſind die Einzelſtaaten Selbſtverwaltungs-Körper. Der
Begriff der Selbſtverwaltung wird hier in einem Sinne genommen,
der von der herrſchenden Lehre erheblich abweicht, und da im
Folgenden dieſer Begriff vielfach Verwendung finden wird, ſo iſt
es unerläßlich, ſeinen Inhalt hier näher feſtzuſtellen.

Das Wort „Selbſtverwaltung“ iſt in Nachbildung des eng-
liſchen Ausdrucks selfgovernment vorzugsweiſe durch die zahlreichen
ausgezeichneten Schriften Gneiſt’s über das engliſche Verwal-
tungsrecht in allgemeinen Gebrauch gekommen und zu einem poli-
tiſchen Schlagworte geworden. Gneiſt ſelbſt hat faſt ausſchließlich
die politiſche Bedeutung der Verwaltung mittelſt unbeſoldeter
Ehrenämter entwickelt und den Gegenſatz einerſeits zu einer büreau-
kratiſchen Verwaltung durch beſoldete Berufsbeamte andererſeits
zu der Thätigkeit beſchließender, aber nicht verwaltender, Deputir-
ten-Collegien anſchaulich gemacht. Er hat ſtets mit dem größten
Nachdruck hervorgehoben, daß das Syſtem der Selbſtverwaltung
der „Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Geſellſchaft“ und das in
England bewährt gefundene Mittel ſei, um die collidirenden egoi-
ſtiſchen Intereſſen der verſchiedenen ſocialen Klaſſen einer ſtaatlichen
Rechtsordnung zu unterwerfen. Im Hinblick auf die poſitive Ge-
ſtaltung der engliſchen Einrichtungen definirt er den Begriff des
selfgovernment als
„eine innere Landesverwaltung der Kreiſe und Ortsge-
meinden nach den Geſetzen des Landes durch perſön-
liche Ehrenämter
, unter Aufbringung der Koſten
durch communale Grundſteuern“

(Selfgovernment, Communalverfaſſung. 3. Aufl. S. 882 fg.).

Gneiſt wird nicht müde, in allen ſeinen Schriften hervorzu-
heben, daß die Selbſtverwaltung nicht der Gegenſatz der Staats-

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[95/0115] §. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich. ſchehen iſt, iſt der Kreis der den Einzelſtaaten obliegenden Auf- gaben und der dazu erforderlichen Befugniſſe verengt. Würde das Reich die Geſammtheit der ſtaatlichen Aufgaben in dieſer Weiſe ſelbſt übernehmen, ſo würde die Exiſtenz der Einzelſtaaten beendigt ſein und die Fortdauer ihrer Namen wäre eine hiſtoriſche Remini- ſcenz wie es heut die Namen der mittelalterlichen Herzogthümer und Grafſchaften ſind. Höchſtens als Provinzen des Reichs könnten die Gebiete der Einzelſtaaten eine Bedeutung behalten. 2) Für einen großen Kreis von Hoheitsrechten des Reiches ſind die Einzelſtaaten Selbſtverwaltungs-Körper. Der Begriff der Selbſtverwaltung wird hier in einem Sinne genommen, der von der herrſchenden Lehre erheblich abweicht, und da im Folgenden dieſer Begriff vielfach Verwendung finden wird, ſo iſt es unerläßlich, ſeinen Inhalt hier näher feſtzuſtellen. Das Wort „Selbſtverwaltung“ iſt in Nachbildung des eng- liſchen Ausdrucks selfgovernment vorzugsweiſe durch die zahlreichen ausgezeichneten Schriften Gneiſt’s über das engliſche Verwal- tungsrecht in allgemeinen Gebrauch gekommen und zu einem poli- tiſchen Schlagworte geworden. Gneiſt ſelbſt hat faſt ausſchließlich die politiſche Bedeutung der Verwaltung mittelſt unbeſoldeter Ehrenämter entwickelt und den Gegenſatz einerſeits zu einer büreau- kratiſchen Verwaltung durch beſoldete Berufsbeamte andererſeits zu der Thätigkeit beſchließender, aber nicht verwaltender, Deputir- ten-Collegien anſchaulich gemacht. Er hat ſtets mit dem größten Nachdruck hervorgehoben, daß das Syſtem der Selbſtverwaltung der „Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Geſellſchaft“ und das in England bewährt gefundene Mittel ſei, um die collidirenden egoi- ſtiſchen Intereſſen der verſchiedenen ſocialen Klaſſen einer ſtaatlichen Rechtsordnung zu unterwerfen. Im Hinblick auf die poſitive Ge- ſtaltung der engliſchen Einrichtungen definirt er den Begriff des selfgovernment als „eine innere Landesverwaltung der Kreiſe und Ortsge- meinden nach den Geſetzen des Landes durch perſön- liche Ehrenämter, unter Aufbringung der Koſten durch communale Grundſteuern“ (Selfgovernment, Communalverfaſſung. 3. Aufl. S. 882 fg.). Gneiſt wird nicht müde, in allen ſeinen Schriften hervorzu- heben, daß die Selbſtverwaltung nicht der Gegenſatz der Staats-

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/115>, abgerufen am 23.04.2024.