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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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Vorwort.

In den ersten Jahren nach Gründung des Norddeutschen
Bundes wendete sich das öffentliche Interesse naturgemäß der
politischen Würdigung der Neugestaltung Deutschlands zu.
Die großen Ereignisse, welche dieser Gründung vorangegangen
waren, hatten die politischen Leidenschaften des Volkes in unge-
wöhnlichem Grade erregt. Die neue Verfassung war für Jeden,
der an dem politischen Leben der Nation Antheil nahm, ein Gegen-
stand der Sympathie oder Antipathie, also des Gefühls. Ob die
neue Schöpfung Bestand haben werde oder nicht, ob sie zur Ver-
einigung oder zur Zerreißung Deutschlands führen werde, ob sie
die Wohlfahrt des Deutschen Volkes fördern oder hindern werde,
das waren die Fragen, welche Erörterung verdienten und fanden.
Von untergeordneter Wichtigkeit erschien es dagegen, in welcher
Art die neuentstandenen Zustände rechtlich zu definiren und welche
Rechtsbegriffe auf sie anwendbar seien. Die nächste Aufgabe be-
stand nicht in der Durchführung schulgerechter Construktionen, son-
dern in der Vollbringung einer geschichtlichen That.

Im Laufe der Zeit ändert sich dies vollständig. Je längeren
und je festeren Bestand die neue Verfassungsform hat, desto müßi-
ger erscheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für
heilsam oder für schädlich zu erachten sei. Die Errichtung des
Norddeutschen Bundes und die Erweiterung desselben zum Deut-
schen Reich erscheint immer mehr und mehr als eine unabänderliche
Thatsache, in welche auch derjenige sich schicken muß, dem sie un-
erwünscht ist. Die Verfassung des Reiches ist nicht mehr der Gegen-
stand des Parteistreites, sondern sie ist die gemeinsame Grundlage
für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt
das Verständniß dieser Verfassung selbst, die Erkenntniß ihrer

Vorwort.

In den erſten Jahren nach Gründung des Norddeutſchen
Bundes wendete ſich das öffentliche Intereſſe naturgemäß der
politiſchen Würdigung der Neugeſtaltung Deutſchlands zu.
Die großen Ereigniſſe, welche dieſer Gründung vorangegangen
waren, hatten die politiſchen Leidenſchaften des Volkes in unge-
wöhnlichem Grade erregt. Die neue Verfaſſung war für Jeden,
der an dem politiſchen Leben der Nation Antheil nahm, ein Gegen-
ſtand der Sympathie oder Antipathie, alſo des Gefühls. Ob die
neue Schöpfung Beſtand haben werde oder nicht, ob ſie zur Ver-
einigung oder zur Zerreißung Deutſchlands führen werde, ob ſie
die Wohlfahrt des Deutſchen Volkes fördern oder hindern werde,
das waren die Fragen, welche Erörterung verdienten und fanden.
Von untergeordneter Wichtigkeit erſchien es dagegen, in welcher
Art die neuentſtandenen Zuſtände rechtlich zu definiren und welche
Rechtsbegriffe auf ſie anwendbar ſeien. Die nächſte Aufgabe be-
ſtand nicht in der Durchführung ſchulgerechter Conſtruktionen, ſon-
dern in der Vollbringung einer geſchichtlichen That.

Im Laufe der Zeit ändert ſich dies vollſtändig. Je längeren
und je feſteren Beſtand die neue Verfaſſungsform hat, deſto müßi-
ger erſcheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für
heilſam oder für ſchädlich zu erachten ſei. Die Errichtung des
Norddeutſchen Bundes und die Erweiterung deſſelben zum Deut-
ſchen Reich erſcheint immer mehr und mehr als eine unabänderliche
Thatſache, in welche auch derjenige ſich ſchicken muß, dem ſie un-
erwünſcht iſt. Die Verfaſſung des Reiches iſt nicht mehr der Gegen-
ſtand des Parteiſtreites, ſondern ſie iſt die gemeinſame Grundlage
für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt
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[[V]/0013] Vorwort. In den erſten Jahren nach Gründung des Norddeutſchen Bundes wendete ſich das öffentliche Intereſſe naturgemäß der politiſchen Würdigung der Neugeſtaltung Deutſchlands zu. Die großen Ereigniſſe, welche dieſer Gründung vorangegangen waren, hatten die politiſchen Leidenſchaften des Volkes in unge- wöhnlichem Grade erregt. Die neue Verfaſſung war für Jeden, der an dem politiſchen Leben der Nation Antheil nahm, ein Gegen- ſtand der Sympathie oder Antipathie, alſo des Gefühls. Ob die neue Schöpfung Beſtand haben werde oder nicht, ob ſie zur Ver- einigung oder zur Zerreißung Deutſchlands führen werde, ob ſie die Wohlfahrt des Deutſchen Volkes fördern oder hindern werde, das waren die Fragen, welche Erörterung verdienten und fanden. Von untergeordneter Wichtigkeit erſchien es dagegen, in welcher Art die neuentſtandenen Zuſtände rechtlich zu definiren und welche Rechtsbegriffe auf ſie anwendbar ſeien. Die nächſte Aufgabe be- ſtand nicht in der Durchführung ſchulgerechter Conſtruktionen, ſon- dern in der Vollbringung einer geſchichtlichen That. Im Laufe der Zeit ändert ſich dies vollſtändig. Je längeren und je feſteren Beſtand die neue Verfaſſungsform hat, deſto müßi- ger erſcheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für heilſam oder für ſchädlich zu erachten ſei. Die Errichtung des Norddeutſchen Bundes und die Erweiterung deſſelben zum Deut- ſchen Reich erſcheint immer mehr und mehr als eine unabänderliche Thatſache, in welche auch derjenige ſich ſchicken muß, dem ſie un- erwünſcht iſt. Die Verfaſſung des Reiches iſt nicht mehr der Gegen- ſtand des Parteiſtreites, ſondern ſie iſt die gemeinſame Grundlage für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt das Verſtändniß dieſer Verfaſſung ſelbſt, die Erkenntniß ihrer

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/13>, abgerufen am 20.04.2024.