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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 32. Begriff und System der Reichsbehörden.
jede wieder einen Vorstand (Präsident, Director, Staatssekretär)
hat, die aber sämmtlich dem Reichskanzler untergeordnet sind.

Unter diesen Reichsämtern oder Reichsbehörden lassen sich
aber zwei, von einander sehr verschiedene Arten unterscheiden,
nämlich Behörden für die Verwaltung und Behörden für die
Rechtsprechung.

Den Gegensatz zwischen diesen beiden Arten von Behörden in
Beziehung auf den Behörden-Organismus kann man dahin formu-
liren, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rücksichtlich
der Verwaltungsbehörden einen positiven, rücksichtlich der recht-
sprechenden Behörden einen negativen Inhalt hat.

Bei den ersteren erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und An-
ordnungen. Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell
selbst entscheiden und bestimmen, was geschehen soll. Die Reichs-
behörden sind gewissermaßen nur seine Bureaus und haben eine
Selbstständigkeit des Dezernates nur insoweit, als der Reichskanzler
sie ihnen gestattet. Bei den rechtsprechenden Behörden erstreckt sich
die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, daß die
Thätigkeit derselben nicht gestört und gehindert wird, daß insbe-
sondere Einwirkungen der Verwaltungsbehörden nicht in rechts-
widriger Weise sich geltend machen; dagegen nicht auf den Inhalt
der Entscheidungen, für welche ausschließlich das geltende Recht
maaßgebend ist. Daher kann der Reichskanzler in die Geschäfte
dieser Behörden materiell nicht eingreifen oder statt ihrer selbst
entscheiden. Seine Verantwortlichkeit geht dahin, daß diese Be-
hörden im Stande sind, ihre Funktionen in verfassungsmäßiger
Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie sie dieselben
ausüben. Für die Beschlußfassung dieser Behörden gilt demgemäß
auch das Kollegialsystem. Hinsichtlich ihres geschäftlichen Wirkungs-
kreises sind daher die rechtsprechenden Reichsbehörden dem Reichs-
kanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs-
kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugnisse, welche nach den
Grundsätzen des deutschen Landesstaatsrechts dem Justizminister
den Landesgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufsicht
über die Justiz verwaltung, die Aufstellung des Etats, die Ge-
genzeichnung der kaiserlichen Anstellungs- und Entlassungs-Dekrete
für die Mitglieder.


Laband, Reichsstaatsrecht. I. 20

§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
jede wieder einen Vorſtand (Präſident, Director, Staatsſekretär)
hat, die aber ſämmtlich dem Reichskanzler untergeordnet ſind.

Unter dieſen Reichsämtern oder Reichsbehörden laſſen ſich
aber zwei, von einander ſehr verſchiedene Arten unterſcheiden,
nämlich Behörden für die Verwaltung und Behörden für die
Rechtſprechung.

Den Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Arten von Behörden in
Beziehung auf den Behörden-Organismus kann man dahin formu-
liren, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rückſichtlich
der Verwaltungsbehörden einen poſitiven, rückſichtlich der recht-
ſprechenden Behörden einen negativen Inhalt hat.

Bei den erſteren erſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und An-
ordnungen. Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell
ſelbſt entſcheiden und beſtimmen, was geſchehen ſoll. Die Reichs-
behörden ſind gewiſſermaßen nur ſeine Bureaus und haben eine
Selbſtſtändigkeit des Dezernates nur inſoweit, als der Reichskanzler
ſie ihnen geſtattet. Bei den rechtſprechenden Behörden erſtreckt ſich
die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, daß die
Thätigkeit derſelben nicht geſtört und gehindert wird, daß insbe-
ſondere Einwirkungen der Verwaltungsbehörden nicht in rechts-
widriger Weiſe ſich geltend machen; dagegen nicht auf den Inhalt
der Entſcheidungen, für welche ausſchließlich das geltende Recht
maaßgebend iſt. Daher kann der Reichskanzler in die Geſchäfte
dieſer Behörden materiell nicht eingreifen oder ſtatt ihrer ſelbſt
entſcheiden. Seine Verantwortlichkeit geht dahin, daß dieſe Be-
hörden im Stande ſind, ihre Funktionen in verfaſſungsmäßiger
Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie ſie dieſelben
ausüben. Für die Beſchlußfaſſung dieſer Behörden gilt demgemäß
auch das Kollegialſyſtem. Hinſichtlich ihres geſchäftlichen Wirkungs-
kreiſes ſind daher die rechtſprechenden Reichsbehörden dem Reichs-
kanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs-
kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugniſſe, welche nach den
Grundſätzen des deutſchen Landesſtaatsrechts dem Juſtizminiſter
den Landesgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufſicht
über die Juſtiz verwaltung, die Aufſtellung des Etats, die Ge-
genzeichnung der kaiſerlichen Anſtellungs- und Entlaſſungs-Dekrete
für die Mitglieder.


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 20
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[305/0325] §. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden. jede wieder einen Vorſtand (Präſident, Director, Staatsſekretär) hat, die aber ſämmtlich dem Reichskanzler untergeordnet ſind. Unter dieſen Reichsämtern oder Reichsbehörden laſſen ſich aber zwei, von einander ſehr verſchiedene Arten unterſcheiden, nämlich Behörden für die Verwaltung und Behörden für die Rechtſprechung. Den Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Arten von Behörden in Beziehung auf den Behörden-Organismus kann man dahin formu- liren, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rückſichtlich der Verwaltungsbehörden einen poſitiven, rückſichtlich der recht- ſprechenden Behörden einen negativen Inhalt hat. Bei den erſteren erſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichs- kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und An- ordnungen. Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell ſelbſt entſcheiden und beſtimmen, was geſchehen ſoll. Die Reichs- behörden ſind gewiſſermaßen nur ſeine Bureaus und haben eine Selbſtſtändigkeit des Dezernates nur inſoweit, als der Reichskanzler ſie ihnen geſtattet. Bei den rechtſprechenden Behörden erſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, daß die Thätigkeit derſelben nicht geſtört und gehindert wird, daß insbe- ſondere Einwirkungen der Verwaltungsbehörden nicht in rechts- widriger Weiſe ſich geltend machen; dagegen nicht auf den Inhalt der Entſcheidungen, für welche ausſchließlich das geltende Recht maaßgebend iſt. Daher kann der Reichskanzler in die Geſchäfte dieſer Behörden materiell nicht eingreifen oder ſtatt ihrer ſelbſt entſcheiden. Seine Verantwortlichkeit geht dahin, daß dieſe Be- hörden im Stande ſind, ihre Funktionen in verfaſſungsmäßiger Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie ſie dieſelben ausüben. Für die Beſchlußfaſſung dieſer Behörden gilt demgemäß auch das Kollegialſyſtem. Hinſichtlich ihres geſchäftlichen Wirkungs- kreiſes ſind daher die rechtſprechenden Reichsbehörden dem Reichs- kanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs- kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugniſſe, welche nach den Grundſätzen des deutſchen Landesſtaatsrechts dem Juſtizminiſter den Landesgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufſicht über die Juſtiz verwaltung, die Aufſtellung des Etats, die Ge- genzeichnung der kaiſerlichen Anſtellungs- und Entlaſſungs-Dekrete für die Mitglieder. Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 20

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/325>, abgerufen am 19.04.2024.