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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
wie beim Bundesrathe, ordentliche und außerordentliche Sitzungs-
perioden.

2) Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaisers
versammelt bleiben und seine Thätigkeit fortsetzen. Dem
Kaiser steht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu
schließen. R.-V. Art. 12. Dieses Recht ist jedoch in so weit
eingeschränkt, daß ohne Zustimmung des Reichstages die Vertagung
desselben die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während
derselben Session nicht wiederholt werden darf. R.-V. Art. 26.

Über den rechtlichen Unterschied der Vertagung und Schließung
enthält die Reichsverfassung zwar Nichts; nach dem feststehenden
parlamentarischen Sprachgebrauch und der constitutionellen Praxis
besteht derselbe aber darin, daß die Vertagung die Continuität
der Reichstagsgeschäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung 1).
Im Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten
Einberufung und Eröffnung, keiner neuen Constituirung des Reichs-
tages, keiner neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vor-
lagen und Anträge. Die Geschäfte werden vielmehr während der
Vertagungsfrist nur suspendirt, bei dem Wiederzusammentritt des
Reichstages daher an dem Punkte aufgenommen und fortgesetzt,
an welchem sie liegen geblieben sind.

Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Dis-
continuität ein; die neue Sitzung ist keine Fortsetzung der vorher-
gehenden; alle in der letzteren nicht zum Abschluß gekommenen
Reichstagsgeschäfte müssen von Anfang an wieder begonnen werden.
Daher können auch Reichstags-Kommissionen nach Schluß der
Sitzungsperiode ihre vorberathende Thätigkeit nicht fortsetzen. Ob-
wohl dieser Satz reichsgesetzlich nicht direct ausgesprochen ist, so
steht er doch in so unbezweifelter Geltung 2), daß eine Abweichung
von demselben nur auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes zu-
lässig erscheint. Eine solche Ausnahme ist durch das Gesetz v.

ordn. v. 26. Febr. und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch
Verordn. v. 20. Januar und v. 20. Oktober.
1) Vrgl. darüber v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 122 (I. 2 S. 405. ff.)
2) Die Gesch.-Ordn. §. 67 scheint ihn bestätigen zu wollen, indem sie be-
stimmt, daß Gesetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der
Sitzungs-Periode, in welcher sie eingebracht und noch nicht zur Beschlußnahme
gediehen sind, für erledigt (!?) zu erachten sind.

§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
wie beim Bundesrathe, ordentliche und außerordentliche Sitzungs-
perioden.

2) Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaiſers
verſammelt bleiben und ſeine Thätigkeit fortſetzen. Dem
Kaiſer ſteht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu
ſchließen. R.-V. Art. 12. Dieſes Recht iſt jedoch in ſo weit
eingeſchränkt, daß ohne Zuſtimmung des Reichstages die Vertagung
deſſelben die Friſt von 30 Tagen nicht überſteigen und während
derſelben Seſſion nicht wiederholt werden darf. R.-V. Art. 26.

Über den rechtlichen Unterſchied der Vertagung und Schließung
enthält die Reichsverfaſſung zwar Nichts; nach dem feſtſtehenden
parlamentariſchen Sprachgebrauch und der conſtitutionellen Praxis
beſteht derſelbe aber darin, daß die Vertagung die Continuität
der Reichstagsgeſchäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung 1).
Im Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten
Einberufung und Eröffnung, keiner neuen Conſtituirung des Reichs-
tages, keiner neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vor-
lagen und Anträge. Die Geſchäfte werden vielmehr während der
Vertagungsfriſt nur ſuspendirt, bei dem Wiederzuſammentritt des
Reichstages daher an dem Punkte aufgenommen und fortgeſetzt,
an welchem ſie liegen geblieben ſind.

Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Dis-
continuität ein; die neue Sitzung iſt keine Fortſetzung der vorher-
gehenden; alle in der letzteren nicht zum Abſchluß gekommenen
Reichstagsgeſchäfte müſſen von Anfang an wieder begonnen werden.
Daher können auch Reichstags-Kommiſſionen nach Schluß der
Sitzungsperiode ihre vorberathende Thätigkeit nicht fortſetzen. Ob-
wohl dieſer Satz reichsgeſetzlich nicht direct ausgeſprochen iſt, ſo
ſteht er doch in ſo unbezweifelter Geltung 2), daß eine Abweichung
von demſelben nur auf Grund eines beſonderen Reichsgeſetzes zu-
läſſig erſcheint. Eine ſolche Ausnahme iſt durch das Geſetz v.

ordn. v. 26. Febr. und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch
Verordn. v. 20. Januar und v. 20. Oktober.
1) Vrgl. darüber v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 122 (I. 2 S. 405. ff.)
2) Die Geſch.-Ordn. §. 67 ſcheint ihn beſtätigen zu wollen, indem ſie be-
ſtimmt, daß Geſetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der
Sitzungs-Periode, in welcher ſie eingebracht und noch nicht zur Beſchlußnahme
gediehen ſind, für erledigt (!?) zu erachten ſind.
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[557/0577] §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages. wie beim Bundesrathe, ordentliche und außerordentliche Sitzungs- perioden. 2) Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaiſers verſammelt bleiben und ſeine Thätigkeit fortſetzen. Dem Kaiſer ſteht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu ſchließen. R.-V. Art. 12. Dieſes Recht iſt jedoch in ſo weit eingeſchränkt, daß ohne Zuſtimmung des Reichstages die Vertagung deſſelben die Friſt von 30 Tagen nicht überſteigen und während derſelben Seſſion nicht wiederholt werden darf. R.-V. Art. 26. Über den rechtlichen Unterſchied der Vertagung und Schließung enthält die Reichsverfaſſung zwar Nichts; nach dem feſtſtehenden parlamentariſchen Sprachgebrauch und der conſtitutionellen Praxis beſteht derſelbe aber darin, daß die Vertagung die Continuität der Reichstagsgeſchäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung 1). Im Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten Einberufung und Eröffnung, keiner neuen Conſtituirung des Reichs- tages, keiner neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vor- lagen und Anträge. Die Geſchäfte werden vielmehr während der Vertagungsfriſt nur ſuspendirt, bei dem Wiederzuſammentritt des Reichstages daher an dem Punkte aufgenommen und fortgeſetzt, an welchem ſie liegen geblieben ſind. Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Dis- continuität ein; die neue Sitzung iſt keine Fortſetzung der vorher- gehenden; alle in der letzteren nicht zum Abſchluß gekommenen Reichstagsgeſchäfte müſſen von Anfang an wieder begonnen werden. Daher können auch Reichstags-Kommiſſionen nach Schluß der Sitzungsperiode ihre vorberathende Thätigkeit nicht fortſetzen. Ob- wohl dieſer Satz reichsgeſetzlich nicht direct ausgeſprochen iſt, ſo ſteht er doch in ſo unbezweifelter Geltung 2), daß eine Abweichung von demſelben nur auf Grund eines beſonderen Reichsgeſetzes zu- läſſig erſcheint. Eine ſolche Ausnahme iſt durch das Geſetz v. 2) 1) Vrgl. darüber v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 122 (I. 2 S. 405. ff.) 2) Die Geſch.-Ordn. §. 67 ſcheint ihn beſtätigen zu wollen, indem ſie be- ſtimmt, daß Geſetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der Sitzungs-Periode, in welcher ſie eingebracht und noch nicht zur Beſchlußnahme gediehen ſind, für erledigt (!?) zu erachten ſind. 2) ordn. v. 26. Febr. und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch Verordn. v. 20. Januar und v. 20. Oktober.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/577>, abgerufen am 29.03.2024.