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Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

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noch mehr ins Einzelne gehende Resultate, als in der
zweiten Hälfte des Gedichts, können gewonnen werden.

Ja es zeigt sich auch hier ganz unerwartet ein sehr
nahe liegendes Zeugniß, wenigstens für Einiges, das un-
sere Frage zunächst betrifft, und, wo es auch diese nicht
genau berührt, doch immer für die Geschichte unseres Lie-
des. Ich meine die jetzt in München befindliche zweite
Hohenemser Handschrift desselben, deren Vergleichung auch
in der zweiten Hälfte, wo ihre Lesarten noch unbe-
kannt sind, vielleicht eine neue Seite für unsere Unter-
suchung darbieten möchte. Es ist ausgemacht, daß die
erste Hohenemser Handschrift das Gedicht in einer augen-
genscheinlich späteren, besonders in vielen Punkten gemil-
derten Überarbeitung liefert 51). Und wenn ich nun sage,
daß, wie diese Handschrift eine spätere, so die andere eine
frühere Recension unseres Liedes enthalte, das in der
Sanct-Gallischen, mag die Handschrift selbst jünger oder
älter, als die zweite Hohenemser sein 52), in der höchsten
Blüthe steht und den Grad der Vollkommenheit, den ge-
rade jenes Zeitalter der damahligen Gestalt des Liedes ge-
ben konnte, erreicht hat: so soll das, denke ich, niemand
wundern, der bei der Vergleichung beider in den mannig-
faltigen Änderungen und Zusätzen der Sanct-Galler Hand-
schrift eine meistentheils absichtliche künstliche weitere Aus-
bildung der noch weniger glatten und geschmückten Form
in der anderen erkannt hat 53).

Dabei ist nun aber sehr auffallend und bemerkens-
werth, daß man keineswegs überall in der Sanct-Galler
Handschrift, sondern nur in einigen Aventüren sehr viele,
in anderen nur wenige und in manchen gar keine neue

noch mehr ins Einzelne gehende Reſultate, als in der
zweiten Hälfte des Gedichts, können gewonnen werden.

Ja es zeigt ſich auch hier ganz unerwartet ein ſehr
nahe liegendes Zeugniß, wenigſtens für Einiges, das un-
ſere Frage zunächſt betrifft, und, wo es auch dieſe nicht
genau berührt, doch immer für die Geſchichte unſeres Lie-
des. Ich meine die jetzt in München befindliche zweite
Hohenemſer Handſchrift deſſelben, deren Vergleichung auch
in der zweiten Hälfte, wo ihre Lesarten noch unbe-
kannt ſind, vielleicht eine neue Seite für unſere Unter-
ſuchung darbieten möchte. Es iſt ausgemacht, daß die
erſte Hohenemſer Handſchrift das Gedicht in einer augen-
genſcheinlich ſpäteren, beſonders in vielen Punkten gemil-
derten Überarbeitung liefert 51). Und wenn ich nun ſage,
daß, wie dieſe Handſchrift eine ſpätere, ſo die andere eine
frühere Recenſion unſeres Liedes enthalte, das in der
Sanct-Galliſchen, mag die Handſchrift ſelbſt jünger oder
älter, als die zweite Hohenemſer ſein 52), in der höchſten
Blüthe ſteht und den Grad der Vollkommenheit, den ge-
rade jenes Zeitalter der damahligen Geſtalt des Liedes ge-
ben konnte, erreicht hat: ſo ſoll das, denke ich, niemand
wundern, der bei der Vergleichung beider in den mannig-
faltigen Änderungen und Zuſätzen der Sanct-Galler Hand-
ſchrift eine meiſtentheils abſichtliche künſtliche weitere Aus-
bildung der noch weniger glatten und geſchmückten Form
in der anderen erkannt hat 53).

Dabei iſt nun aber ſehr auffallend und bemerkens-
werth, daß man keineswegs überall in der Sanct-Galler
Handſchrift, ſondern nur in einigen Aventüren ſehr viele,
in anderen nur wenige und in manchen gar keine neue

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[68/0076] noch mehr ins Einzelne gehende Reſultate, als in der zweiten Hälfte des Gedichts, können gewonnen werden. Ja es zeigt ſich auch hier ganz unerwartet ein ſehr nahe liegendes Zeugniß, wenigſtens für Einiges, das un- ſere Frage zunächſt betrifft, und, wo es auch dieſe nicht genau berührt, doch immer für die Geſchichte unſeres Lie- des. Ich meine die jetzt in München befindliche zweite Hohenemſer Handſchrift deſſelben, deren Vergleichung auch in der zweiten Hälfte, wo ihre Lesarten noch unbe- kannt ſind, vielleicht eine neue Seite für unſere Unter- ſuchung darbieten möchte. Es iſt ausgemacht, daß die erſte Hohenemſer Handſchrift das Gedicht in einer augen- genſcheinlich ſpäteren, beſonders in vielen Punkten gemil- derten Überarbeitung liefert ⁵¹⁾ . Und wenn ich nun ſage, daß, wie dieſe Handſchrift eine ſpätere, ſo die andere eine frühere Recenſion unſeres Liedes enthalte, das in der Sanct-Galliſchen, mag die Handſchrift ſelbſt jünger oder älter, als die zweite Hohenemſer ſein ⁵²⁾ , in der höchſten Blüthe ſteht und den Grad der Vollkommenheit, den ge- rade jenes Zeitalter der damahligen Geſtalt des Liedes ge- ben konnte, erreicht hat: ſo ſoll das, denke ich, niemand wundern, der bei der Vergleichung beider in den mannig- faltigen Änderungen und Zuſätzen der Sanct-Galler Hand- ſchrift eine meiſtentheils abſichtliche künſtliche weitere Aus- bildung der noch weniger glatten und geſchmückten Form in der anderen erkannt hat ⁵³⁾ . Dabei iſt nun aber ſehr auffallend und bemerkens- werth, daß man keineswegs überall in der Sanct-Galler Handſchrift, ſondern nur in einigen Aventüren ſehr viele, in anderen nur wenige und in manchen gar keine neue

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Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/76>, abgerufen am 19.04.2024.