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Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

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36.

Und nun sei es erlaubt, zum Schluß noch eine Frage zu
berühren, deren Beanwortung die Kritik sich niemahls an-
maßen darf: vielmehr wird sie sich verbunden halten, was
auch bei den Untersuchungen über den Hamer vielleicht
mit Recht konnte gefordert werden, deutlich und be-
stimmt zu erklären, daß jene Frage jetzt durchaus keiner
Lösung mehr fähig sei. Es ist nämlich die gemeint, ob
bei der Zusammenfügung unserer wie der Homerischen Lie-
der die Diaskeuasten Zusammenhang und Folge nach ei-
nem vorhandenen, wenn auch kürzeren Gedichte, das aber
den ganzen Inhalt der Geschichte befaßte, oder nur nach
Anleitung der Sage bestimmten.

Bei den mannigfaltigverschiedenen Verbindungen, in
die einzelne Theile unserer Nibelungengeschichte in anderen
und anderen Gestalten der Sage gesetzt worden sind, muß
man endlich den, welcher Kriemhildens Rache an Sieg-
frieds Ermordung durch Hagen und ihren Bruder Günther
geknüpft, für den eigentlichen Dichter des Deutschen Epos
erklären. Wenn aber gefragt wird, nicht was jeden wahr-
scheinlich dünke, sondern was sich streng erweisen lasse,
wer will dann zu bestimmen wagen, ob sich in einem ein-
zelnen größeren Gedichte, oder nur in der Sage, wenn
auch nur eines Theiles von Deutschland, die weniger bei
jener Verbindung wesentlichen Umstände zusammengefun-
den und in diesem Sinne, nach Grimms freilich sehr wun-
derlichem Ausdrucke das Nibelungenlied sich unbewußt sel-
ber gedichtet habe, oder von Einem Dichter geschaffen sei?
Eben so wenig mag es aber auszumachen sein, ob die Ho-
merischen Lieder nach einem ursprünglichen Gedichte ge-

36.

Und nun ſei es erlaubt, zum Schluß noch eine Frage zu
berühren, deren Beanwortung die Kritik ſich niemahls an-
maßen darf: vielmehr wird ſie ſich verbunden halten, was
auch bei den Unterſuchungen über den Hamer vielleicht
mit Recht konnte gefordert werden, deutlich und be-
ſtimmt zu erklären, daß jene Frage jetzt durchaus keiner
Löſung mehr fähig ſei. Es iſt nämlich die gemeint, ob
bei der Zuſammenfügung unſerer wie der Homeriſchen Lie-
der die Diaſkeuaſten Zuſammenhang und Folge nach ei-
nem vorhandenen, wenn auch kürzeren Gedichte, das aber
den ganzen Inhalt der Geſchichte befaßte, oder nur nach
Anleitung der Sage beſtimmten.

Bei den mannigfaltigverſchiedenen Verbindungen, in
die einzelne Theile unſerer Nibelungengeſchichte in anderen
und anderen Geſtalten der Sage geſetzt worden ſind, muß
man endlich den, welcher Kriemhildens Rache an Sieg-
frieds Ermordung durch Hagen und ihren Bruder Günther
geknüpft, für den eigentlichen Dichter des Deutſchen Epos
erklären. Wenn aber gefragt wird, nicht was jeden wahr-
ſcheinlich dünke, ſondern was ſich ſtreng erweiſen laſſe,
wer will dann zu beſtimmen wagen, ob ſich in einem ein-
zelnen größeren Gedichte, oder nur in der Sage, wenn
auch nur eines Theiles von Deutſchland, die weniger bei
jener Verbindung weſentlichen Umſtände zuſammengefun-
den und in dieſem Sinne, nach Grimms freilich ſehr wun-
derlichem Ausdrucke das Nibelungenlied ſich unbewußt ſel-
ber gedichtet habe, oder von Einem Dichter geſchaffen ſei?
Eben ſo wenig mag es aber auszumachen ſein, ob die Ho-
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[87/0095] 36. Und nun ſei es erlaubt, zum Schluß noch eine Frage zu berühren, deren Beanwortung die Kritik ſich niemahls an- maßen darf: vielmehr wird ſie ſich verbunden halten, was auch bei den Unterſuchungen über den Hamer vielleicht mit Recht konnte gefordert werden, deutlich und be- ſtimmt zu erklären, daß jene Frage jetzt durchaus keiner Löſung mehr fähig ſei. Es iſt nämlich die gemeint, ob bei der Zuſammenfügung unſerer wie der Homeriſchen Lie- der die Diaſkeuaſten Zuſammenhang und Folge nach ei- nem vorhandenen, wenn auch kürzeren Gedichte, das aber den ganzen Inhalt der Geſchichte befaßte, oder nur nach Anleitung der Sage beſtimmten. Bei den mannigfaltigverſchiedenen Verbindungen, in die einzelne Theile unſerer Nibelungengeſchichte in anderen und anderen Geſtalten der Sage geſetzt worden ſind, muß man endlich den, welcher Kriemhildens Rache an Sieg- frieds Ermordung durch Hagen und ihren Bruder Günther geknüpft, für den eigentlichen Dichter des Deutſchen Epos erklären. Wenn aber gefragt wird, nicht was jeden wahr- ſcheinlich dünke, ſondern was ſich ſtreng erweiſen laſſe, wer will dann zu beſtimmen wagen, ob ſich in einem ein- zelnen größeren Gedichte, oder nur in der Sage, wenn auch nur eines Theiles von Deutſchland, die weniger bei jener Verbindung weſentlichen Umſtände zuſammengefun- den und in dieſem Sinne, nach Grimms freilich ſehr wun- derlichem Ausdrucke das Nibelungenlied ſich unbewußt ſel- ber gedichtet habe, oder von Einem Dichter geſchaffen ſei? Eben ſo wenig mag es aber auszumachen ſein, ob die Ho- meriſchen Lieder nach einem urſprünglichen Gedichte ge-

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Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/95>, abgerufen am 29.03.2024.