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Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 2. Riga, 1771.

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Zusatz zum neunzehnten Hauptstücke.
Es wird eben so auch kein, selbst auch kein geübter
Schriftsteller seyn, der immer sagen könne, daß er
gerade das geschrieben, was er anfangs zu schreiben
vorgenommen, weil die Reihe der Gedanken, so
durch das Schreiben veranlasset wird, sich sehr leicht
mit in den vorgefaßten Plan einmenget, und densel-
ben mehr oder minder vom ersten Ziele ablenket.

XXV.

Das will nun freylich nicht sagen, daß man das
Ziel soll fahren lassen, weil die Jndividualien der
Ausführung davon ablenken können, oder nicht im-
mer alles bereits vorräthig ist. Besonders ist bey
ganzen Systemen sehr anzurathen, daß ehe man sich
zur Materie wendet, man sich die Form umständ-
lich bekannt mache, und besonders sehe, ob es die
der Sache und der Absicht angemessenste Form
ist. So z. E. wenn Tournefort, Linnäus und
andere sich vorsetzen, die Kräuterkunde in ein Sy-
stem zu bringen, und ihre Absicht ist nur die Pflan-
zen kenntlich zu machen; so kann man immer sagen,
daß ihre Systemen eine dazu mehr oder minder gut
eingerichtete Form haben. Die von ihnen gewählte
Form geht nach Aehnlichkeiten, und die daherrüh-
rende Anordnung des Systems ist local aber nicht
gesetzlich. Wenn man daher fraget, ob das Lin-
näische
System das System der Natur sey, so
läßt sich diese Frage so ziemlich verneinen. Einmal
aus eben dem Grunde, warum bey Eucliden, des-
sen System nicht nach der localen, sondern nach der
gesetzlichen Ordnung eingerichtet ist, von Gattun-
gen
und Arten nichts vorkömmt. Sodann machen
die Pflanzen eben so wenig ein besonder und für sich
zu betrachtendes System aus, als die Räder an einer

Uhr,
Q 5

Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke.
Es wird eben ſo auch kein, ſelbſt auch kein geuͤbter
Schriftſteller ſeyn, der immer ſagen koͤnne, daß er
gerade das geſchrieben, was er anfangs zu ſchreiben
vorgenommen, weil die Reihe der Gedanken, ſo
durch das Schreiben veranlaſſet wird, ſich ſehr leicht
mit in den vorgefaßten Plan einmenget, und denſel-
ben mehr oder minder vom erſten Ziele ablenket.

XXV.

Das will nun freylich nicht ſagen, daß man das
Ziel ſoll fahren laſſen, weil die Jndividualien der
Ausfuͤhrung davon ablenken koͤnnen, oder nicht im-
mer alles bereits vorraͤthig iſt. Beſonders iſt bey
ganzen Syſtemen ſehr anzurathen, daß ehe man ſich
zur Materie wendet, man ſich die Form umſtaͤnd-
lich bekannt mache, und beſonders ſehe, ob es die
der Sache und der Abſicht angemeſſenſte Form
iſt. So z. E. wenn Tournefort, Linnaͤus und
andere ſich vorſetzen, die Kraͤuterkunde in ein Sy-
ſtem zu bringen, und ihre Abſicht iſt nur die Pflan-
zen kenntlich zu machen; ſo kann man immer ſagen,
daß ihre Syſtemen eine dazu mehr oder minder gut
eingerichtete Form haben. Die von ihnen gewaͤhlte
Form geht nach Aehnlichkeiten, und die daherruͤh-
rende Anordnung des Syſtems iſt local aber nicht
geſetzlich. Wenn man daher fraget, ob das Lin-
naͤiſche
Syſtem das Syſtem der Natur ſey, ſo
laͤßt ſich dieſe Frage ſo ziemlich verneinen. Einmal
aus eben dem Grunde, warum bey Eucliden, deſ-
ſen Syſtem nicht nach der localen, ſondern nach der
geſetzlichen Ordnung eingerichtet iſt, von Gattun-
gen
und Arten nichts vorkoͤmmt. Sodann machen
die Pflanzen eben ſo wenig ein beſonder und fuͤr ſich
zu betrachtendes Syſtem aus, als die Raͤder an einer

Uhr,
Q 5
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[249/0257] Zuſatz zum neunzehnten Hauptſtuͤcke. Es wird eben ſo auch kein, ſelbſt auch kein geuͤbter Schriftſteller ſeyn, der immer ſagen koͤnne, daß er gerade das geſchrieben, was er anfangs zu ſchreiben vorgenommen, weil die Reihe der Gedanken, ſo durch das Schreiben veranlaſſet wird, ſich ſehr leicht mit in den vorgefaßten Plan einmenget, und denſel- ben mehr oder minder vom erſten Ziele ablenket. XXV. Das will nun freylich nicht ſagen, daß man das Ziel ſoll fahren laſſen, weil die Jndividualien der Ausfuͤhrung davon ablenken koͤnnen, oder nicht im- mer alles bereits vorraͤthig iſt. Beſonders iſt bey ganzen Syſtemen ſehr anzurathen, daß ehe man ſich zur Materie wendet, man ſich die Form umſtaͤnd- lich bekannt mache, und beſonders ſehe, ob es die der Sache und der Abſicht angemeſſenſte Form iſt. So z. E. wenn Tournefort, Linnaͤus und andere ſich vorſetzen, die Kraͤuterkunde in ein Sy- ſtem zu bringen, und ihre Abſicht iſt nur die Pflan- zen kenntlich zu machen; ſo kann man immer ſagen, daß ihre Syſtemen eine dazu mehr oder minder gut eingerichtete Form haben. Die von ihnen gewaͤhlte Form geht nach Aehnlichkeiten, und die daherruͤh- rende Anordnung des Syſtems iſt local aber nicht geſetzlich. Wenn man daher fraget, ob das Lin- naͤiſche Syſtem das Syſtem der Natur ſey, ſo laͤßt ſich dieſe Frage ſo ziemlich verneinen. Einmal aus eben dem Grunde, warum bey Eucliden, deſ- ſen Syſtem nicht nach der localen, ſondern nach der geſetzlichen Ordnung eingerichtet iſt, von Gattun- gen und Arten nichts vorkoͤmmt. Sodann machen die Pflanzen eben ſo wenig ein beſonder und fuͤr ſich zu betrachtendes Syſtem aus, als die Raͤder an einer Uhr, Q 5

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 2. Riga, 1771, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic02_1771/257>, abgerufen am 29.03.2024.