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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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IX. Hauptstück,
griff a priori bey wenigen von denen Fällen ge-
brauchen lassen, wo wir etwas durch Schlüsse voraus
bestimmen können, weil wir in solchem Fall keine von
den Vordersätzen der Erfahrung müßten zu danken
haben. Und so wäre in unsrer ganzen Erkenntniß so
viel als gar nichts a priori.

§. 638.

Nun mag man es endlich gar wohl angehen las-
sen, diese Wörter in einer so strengen und absoluten
Bedeutung zu nehmen. Denn da sie nur Titel und
Ueberschriften unsrer Erkenntniß sind, so ändern sie
an der Sache nichts, weil diese an sich das ist, was
sie ist. Die Hauptsache kömmt hiebey nur darauf
an, daß Wort und Begriffe durchgehends mit einan-
der übereinkommen, und daß man nicht in besondern
Fällen a priori nenne, was nach der angenommenen
Bedeutung des Worts a posteriori genennt werden
müßte.

§. 639.

Wir wollen es demnach gelten lassen, daß man
absolute und im strengsten Verstande nur das a
priori
heißen könne, wobey wir der Erfahrung vol-
lends nichts zu danken haben. Ob sodann in unsrer
Erkenntniß etwas dergleichen sich finde, das ist eine
ganz andre, und zum Theil wirklich unnöthige Fra-
ge. Hingegen werden wir ohne Schwürigkeit im
weitläuftigsten Verstande alles das a priori nen-
nen können, was wir können voraus wissen, ohne
es erst auf die Erfahrung ankommen zu lassen.

§. 640.

Nach dieser Bestimmung der beyden äußersten
Bedeutungen läßt sich nun leicht ausmachen, daß
etwas mehr oder minder a priori sey, je nachdem wir
es aus entferntern Erfahrungen herleiten können, und

daß

IX. Hauptſtuͤck,
griff a priori bey wenigen von denen Faͤllen ge-
brauchen laſſen, wo wir etwas durch Schluͤſſe voraus
beſtimmen koͤnnen, weil wir in ſolchem Fall keine von
den Vorderſaͤtzen der Erfahrung muͤßten zu danken
haben. Und ſo waͤre in unſrer ganzen Erkenntniß ſo
viel als gar nichts a priori.

§. 638.

Nun mag man es endlich gar wohl angehen laſ-
ſen, dieſe Woͤrter in einer ſo ſtrengen und abſoluten
Bedeutung zu nehmen. Denn da ſie nur Titel und
Ueberſchriften unſrer Erkenntniß ſind, ſo aͤndern ſie
an der Sache nichts, weil dieſe an ſich das iſt, was
ſie iſt. Die Hauptſache koͤmmt hiebey nur darauf
an, daß Wort und Begriffe durchgehends mit einan-
der uͤbereinkommen, und daß man nicht in beſondern
Faͤllen a priori nenne, was nach der angenommenen
Bedeutung des Worts a poſteriori genennt werden
muͤßte.

§. 639.

Wir wollen es demnach gelten laſſen, daß man
abſolute und im ſtrengſten Verſtande nur das a
priori
heißen koͤnne, wobey wir der Erfahrung vol-
lends nichts zu danken haben. Ob ſodann in unſrer
Erkenntniß etwas dergleichen ſich finde, das iſt eine
ganz andre, und zum Theil wirklich unnoͤthige Fra-
ge. Hingegen werden wir ohne Schwuͤrigkeit im
weitlaͤuftigſten Verſtande alles das a priori nen-
nen koͤnnen, was wir koͤnnen voraus wiſſen, ohne
es erſt auf die Erfahrung ankommen zu laſſen.

§. 640.

Nach dieſer Beſtimmung der beyden aͤußerſten
Bedeutungen laͤßt ſich nun leicht ausmachen, daß
etwas mehr oder minder a priori ſey, je nachdem wir
es aus entferntern Erfahrungen herleiten koͤnnen, und

daß
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[414/0436] IX. Hauptſtuͤck, griff a priori bey wenigen von denen Faͤllen ge- brauchen laſſen, wo wir etwas durch Schluͤſſe voraus beſtimmen koͤnnen, weil wir in ſolchem Fall keine von den Vorderſaͤtzen der Erfahrung muͤßten zu danken haben. Und ſo waͤre in unſrer ganzen Erkenntniß ſo viel als gar nichts a priori. §. 638. Nun mag man es endlich gar wohl angehen laſ- ſen, dieſe Woͤrter in einer ſo ſtrengen und abſoluten Bedeutung zu nehmen. Denn da ſie nur Titel und Ueberſchriften unſrer Erkenntniß ſind, ſo aͤndern ſie an der Sache nichts, weil dieſe an ſich das iſt, was ſie iſt. Die Hauptſache koͤmmt hiebey nur darauf an, daß Wort und Begriffe durchgehends mit einan- der uͤbereinkommen, und daß man nicht in beſondern Faͤllen a priori nenne, was nach der angenommenen Bedeutung des Worts a poſteriori genennt werden muͤßte. §. 639. Wir wollen es demnach gelten laſſen, daß man abſolute und im ſtrengſten Verſtande nur das a priori heißen koͤnne, wobey wir der Erfahrung vol- lends nichts zu danken haben. Ob ſodann in unſrer Erkenntniß etwas dergleichen ſich finde, das iſt eine ganz andre, und zum Theil wirklich unnoͤthige Fra- ge. Hingegen werden wir ohne Schwuͤrigkeit im weitlaͤuftigſten Verſtande alles das a priori nen- nen koͤnnen, was wir koͤnnen voraus wiſſen, ohne es erſt auf die Erfahrung ankommen zu laſſen. §. 640. Nach dieſer Beſtimmung der beyden aͤußerſten Bedeutungen laͤßt ſich nun leicht ausmachen, daß etwas mehr oder minder a priori ſey, je nachdem wir es aus entferntern Erfahrungen herleiten koͤnnen, und daß

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/436>, abgerufen am 24.04.2024.