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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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von der wissenschaftlichen Erkenntniß.
griffe dazu der Erfahrung zu danken haben, so ist es
nur als ein Anlaß, weil wir nachgehends davon ganz
abstrahiren.

§. 658.

Wenn wir den Begriff der Ausdehnung so wohl
dem Raum als der Zeit nach, oder unmittelbar die
Begriffe des Raums und der Zeit als ganz einfache
Begriffe ansehen: so haben wir drey Wissenschaften,
die im strengsten Verstande a priori sind: Nämlich
die Geometrie, die Chronometrie und die Pho-
ronomie.
Und hinwiederum wenn man zugiebt,
daß diese drey Wissenschaften im strengsten Verstande
a priori sind, so sind die Begriffe von Raum und
Zeit einfache Begriffe. Denn die Geometrie fordert
keine andre Möglichkeit, als die von einer geraden Linie
und ihrer Lage um einen Punkt herum, so construirt
sie sogleich Winkel, Zirkel, Sphären, und mit diesen
alle Figuren und Körper. Die Chronometrie for-
dert nichts als den einförmigen Lauf der Zeit, und
damit errichtet sie Cyclos, Periodos etc. Die Pho-
ronomie nimmt Zeit und Raum zusammen, und er-
richtet dadurch die Theorie der Bewegung, Geschwin-
digkeit und Translation bewegter Punkte etc. Dem-
nach, wenn man annimmt, daß die Begriffe von Zeit
und Raum einfach sind, so sind sie von der Erfah-
rung unabhängig (§. 656.) und folglich, da diese
drey Wissenschaften weiter nichts als diese Begriffe
gebrauchen: so sind sie im strengsten Berstande a priori.
Nimmt man aber hinwiederum an, daß diese Wis-
senschaften durchaus a priori sind, so folgt ebenfalls,
daß die Begriffe von Raum und Zeit einfache Be-
griffe seyn müssen, weil sie in diesen Wissenschaften
ohne weitere Entwickelung zum Grunde gelegt wer-
den. Uebrigens ist wohl anzumerken, daß wir die

Dyna-
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von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß.
griffe dazu der Erfahrung zu danken haben, ſo iſt es
nur als ein Anlaß, weil wir nachgehends davon ganz
abſtrahiren.

§. 658.

Wenn wir den Begriff der Ausdehnung ſo wohl
dem Raum als der Zeit nach, oder unmittelbar die
Begriffe des Raums und der Zeit als ganz einfache
Begriffe anſehen: ſo haben wir drey Wiſſenſchaften,
die im ſtrengſten Verſtande a priori ſind: Naͤmlich
die Geometrie, die Chronometrie und die Pho-
ronomie.
Und hinwiederum wenn man zugiebt,
daß dieſe drey Wiſſenſchaften im ſtrengſten Verſtande
a priori ſind, ſo ſind die Begriffe von Raum und
Zeit einfache Begriffe. Denn die Geometrie fordert
keine andre Moͤglichkeit, als die von einer geraden Linie
und ihrer Lage um einen Punkt herum, ſo conſtruirt
ſie ſogleich Winkel, Zirkel, Sphaͤren, und mit dieſen
alle Figuren und Koͤrper. Die Chronometrie for-
dert nichts als den einfoͤrmigen Lauf der Zeit, und
damit errichtet ſie Cycloſ, Periodoſ etc. Die Pho-
ronomie nimmt Zeit und Raum zuſammen, und er-
richtet dadurch die Theorie der Bewegung, Geſchwin-
digkeit und Translation bewegter Punkte ꝛc. Dem-
nach, wenn man annimmt, daß die Begriffe von Zeit
und Raum einfach ſind, ſo ſind ſie von der Erfah-
rung unabhaͤngig (§. 656.) und folglich, da dieſe
drey Wiſſenſchaften weiter nichts als dieſe Begriffe
gebrauchen: ſo ſind ſie im ſtrengſten Berſtande a priori.
Nimmt man aber hinwiederum an, daß dieſe Wiſ-
ſenſchaften durchaus a priori ſind, ſo folgt ebenfalls,
daß die Begriffe von Raum und Zeit einfache Be-
griffe ſeyn muͤſſen, weil ſie in dieſen Wiſſenſchaften
ohne weitere Entwickelung zum Grunde gelegt wer-
den. Uebrigens iſt wohl anzumerken, daß wir die

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[423/0445] von der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß. griffe dazu der Erfahrung zu danken haben, ſo iſt es nur als ein Anlaß, weil wir nachgehends davon ganz abſtrahiren. §. 658. Wenn wir den Begriff der Ausdehnung ſo wohl dem Raum als der Zeit nach, oder unmittelbar die Begriffe des Raums und der Zeit als ganz einfache Begriffe anſehen: ſo haben wir drey Wiſſenſchaften, die im ſtrengſten Verſtande a priori ſind: Naͤmlich die Geometrie, die Chronometrie und die Pho- ronomie. Und hinwiederum wenn man zugiebt, daß dieſe drey Wiſſenſchaften im ſtrengſten Verſtande a priori ſind, ſo ſind die Begriffe von Raum und Zeit einfache Begriffe. Denn die Geometrie fordert keine andre Moͤglichkeit, als die von einer geraden Linie und ihrer Lage um einen Punkt herum, ſo conſtruirt ſie ſogleich Winkel, Zirkel, Sphaͤren, und mit dieſen alle Figuren und Koͤrper. Die Chronometrie for- dert nichts als den einfoͤrmigen Lauf der Zeit, und damit errichtet ſie Cycloſ, Periodoſ etc. Die Pho- ronomie nimmt Zeit und Raum zuſammen, und er- richtet dadurch die Theorie der Bewegung, Geſchwin- digkeit und Translation bewegter Punkte ꝛc. Dem- nach, wenn man annimmt, daß die Begriffe von Zeit und Raum einfach ſind, ſo ſind ſie von der Erfah- rung unabhaͤngig (§. 656.) und folglich, da dieſe drey Wiſſenſchaften weiter nichts als dieſe Begriffe gebrauchen: ſo ſind ſie im ſtrengſten Berſtande a priori. Nimmt man aber hinwiederum an, daß dieſe Wiſ- ſenſchaften durchaus a priori ſind, ſo folgt ebenfalls, daß die Begriffe von Raum und Zeit einfache Be- griffe ſeyn muͤſſen, weil ſie in dieſen Wiſſenſchaften ohne weitere Entwickelung zum Grunde gelegt wer- den. Uebrigens iſt wohl anzumerken, daß wir die Dyna- D d 4

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/445>, abgerufen am 29.03.2024.