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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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I. Hauptstück, von den einfachen
Mangelt sie aber vollkommen, so fehlt uns nicht nur
der einfache Begriff an sich betrachtet: sondern es
bleibt auch in allen denen zusammengesetzten, in wel-
chen er mit vorkömmt, nothwendig eine Lücke. Auf
diese Art haben Blinde gar keinen Begriff von den
Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall etc.
Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin-
dungen giebt, wie z. E. Dichter gewisse feinere Em-
pfindungen von der Schönheit, dem rührenden in den
Gedanken, von gewissen Grazien etc. haben, so ist
es auch möglich, daß solche Empfindungen und was
daher rührt, bey einigen ganz mangeln. Man ist
geneigt zu glauben, daß viele von diesen Feinheiten
und Grazien sich eben so wenig als die Farben durch
innere Merkmaale erklären lassen, und daß man
schlechthin durch die Empfindung einen Begriff da-
von haben könne.

§. 15.

Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es solche
innere Sinnen gebe, so merken wir in Ansehung der
äußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch
erlangen, von der Art sind, daß sie, wenigstens so
lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue-
rung der Empfindung selbst wieder erregt werden,
und in dieser Absicht ist uns im Traume möglich, was
wir wachend nicht thun können. So wissen wir z.
E. daß eine Rose roth ist, daß diese rothe Farbe ge-
wisse Nuances und Stufen hat, daß sie von der ro-
then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder
minder verschieden ist, wir können auch noch ziemlich
beurtheilen, ob sie in Gemälden getroffen ist, oder
nicht etc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be-
griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An-
strengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es

im

I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
Mangelt ſie aber vollkommen, ſo fehlt uns nicht nur
der einfache Begriff an ſich betrachtet: ſondern es
bleibt auch in allen denen zuſammengeſetzten, in wel-
chen er mit vorkoͤmmt, nothwendig eine Luͤcke. Auf
dieſe Art haben Blinde gar keinen Begriff von den
Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall ꝛc.
Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin-
dungen giebt, wie z. E. Dichter gewiſſe feinere Em-
pfindungen von der Schoͤnheit, dem ruͤhrenden in den
Gedanken, von gewiſſen Grazien ꝛc. haben, ſo iſt
es auch moͤglich, daß ſolche Empfindungen und was
daher ruͤhrt, bey einigen ganz mangeln. Man iſt
geneigt zu glauben, daß viele von dieſen Feinheiten
und Grazien ſich eben ſo wenig als die Farben durch
innere Merkmaale erklaͤren laſſen, und daß man
ſchlechthin durch die Empfindung einen Begriff da-
von haben koͤnne.

§. 15.

Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es ſolche
innere Sinnen gebe, ſo merken wir in Anſehung der
aͤußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch
erlangen, von der Art ſind, daß ſie, wenigſtens ſo
lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue-
rung der Empfindung ſelbſt wieder erregt werden,
und in dieſer Abſicht iſt uns im Traume moͤglich, was
wir wachend nicht thun koͤnnen. So wiſſen wir z.
E. daß eine Roſe roth iſt, daß dieſe rothe Farbe ge-
wiſſe Nuances und Stufen hat, daß ſie von der ro-
then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder
minder verſchieden iſt, wir koͤnnen auch noch ziemlich
beurtheilen, ob ſie in Gemaͤlden getroffen iſt, oder
nicht ꝛc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be-
griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An-
ſtrengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es

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[460/0482] I. Hauptſtuͤck, von den einfachen Mangelt ſie aber vollkommen, ſo fehlt uns nicht nur der einfache Begriff an ſich betrachtet: ſondern es bleibt auch in allen denen zuſammengeſetzten, in wel- chen er mit vorkoͤmmt, nothwendig eine Luͤcke. Auf dieſe Art haben Blinde gar keinen Begriff von den Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall ꝛc. Und wenn man annimmt, daß es innere Empfin- dungen giebt, wie z. E. Dichter gewiſſe feinere Em- pfindungen von der Schoͤnheit, dem ruͤhrenden in den Gedanken, von gewiſſen Grazien ꝛc. haben, ſo iſt es auch moͤglich, daß ſolche Empfindungen und was daher ruͤhrt, bey einigen ganz mangeln. Man iſt geneigt zu glauben, daß viele von dieſen Feinheiten und Grazien ſich eben ſo wenig als die Farben durch innere Merkmaale erklaͤren laſſen, und daß man ſchlechthin durch die Empfindung einen Begriff da- von haben koͤnne. §. 15. Ohne uns aber dabey aufzuhalten, ob es ſolche innere Sinnen gebe, ſo merken wir in Anſehung der aͤußern an, daß die klaren Begriffe, die wir dadurch erlangen, von der Art ſind, daß ſie, wenigſtens ſo lange wir wachen, nicht anders als durch die Erneue- rung der Empfindung ſelbſt wieder erregt werden, und in dieſer Abſicht iſt uns im Traume moͤglich, was wir wachend nicht thun koͤnnen. So wiſſen wir z. E. daß eine Roſe roth iſt, daß dieſe rothe Farbe ge- wiſſe Nuances und Stufen hat, daß ſie von der ro- then Farbe andrer Blumen und Dinge mehr oder minder verſchieden iſt, wir koͤnnen auch noch ziemlich beurtheilen, ob ſie in Gemaͤlden getroffen iſt, oder nicht ꝛc. aber das Bild oder den eigentlich klaren Be- griff der Farbe erreichen wir wachend mit aller An- ſtrengung der Einbildungskraft nicht, ungeachtet es im

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/482>, abgerufen am 19.04.2024.