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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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oder für sich gedenkbaren Begriffen.
zu schwache, Empfindungen davon haben, wie wir z.
E. die electrischen, um sie zu empfinden, verstärken
müssen. Wollte man mit den heutigen Weltweisen
setzen, alle mögliche einfache Begriffe liegen schon in
der Seele, und bleiben nur deswegen dunkel, weil
sie durch keine stärkere oder überwiegende Empfindung
veranlaßt werden, so entsteht die Frage, ob nicht alle
noch dunkle Begriffe, denen zum klar werden nur der
Anlaß fehlt, ungefehr so auf den Willen wirken, wie
das Wasser, auch wenn es in Ruhe ist, auf die Sei-
ten oder den Boden des Gefäßes drückt, und dieser
Druck, auch wenn es durch einige Oeffnungen aus-
laufen kann, dadurch nicht unmittelbar und mit einem
male vernichtet wird. Die Begierde der Seele, aus
dem Stückwerk ihres Wissens einmal ein Ganzes zu
machen, ließe sich daraus am vollständigsten erklären.
Es ist möglich, daß wir noch auf eine andre Art Lü-
cken in unsrer Erkenntniß empfinden, als durch die
bloße Vorstellung einzelner Fragen, die wir noch nicht
beantworten können.

§. 65.

Wir haben uns länger bey der Betrachtung auf-
gehalten, was ein Sehender vor dem Blinden vor-
aus habe, und ob das Gesicht nicht noch von andern
möglichen Sinnen übertroffen werden könne? Unge-
achtet wir nun durch eine solche Untersuchung im ge-
ringsten nicht zu mehrern Begriffen gelangen können,
als die wir durch unsre dermalige Sinnen haben, so
scheint doch eine solche Untersuchung weder unnütz noch
unangenehm zu seyn, und in beyden Absichten verdiente
die Frage von der Rangordnung der Sinnen in Ab-
sicht auf die Ausdehnung der Erkenntniß, die sie uns
möglich machen, und wie weit man mit jedem reichen
würde, eine ausführlichere Untersuchung. Die erst

ange-

oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen.
zu ſchwache, Empfindungen davon haben, wie wir z.
E. die electriſchen, um ſie zu empfinden, verſtaͤrken
muͤſſen. Wollte man mit den heutigen Weltweiſen
ſetzen, alle moͤgliche einfache Begriffe liegen ſchon in
der Seele, und bleiben nur deswegen dunkel, weil
ſie durch keine ſtaͤrkere oder uͤberwiegende Empfindung
veranlaßt werden, ſo entſteht die Frage, ob nicht alle
noch dunkle Begriffe, denen zum klar werden nur der
Anlaß fehlt, ungefehr ſo auf den Willen wirken, wie
das Waſſer, auch wenn es in Ruhe iſt, auf die Sei-
ten oder den Boden des Gefaͤßes druͤckt, und dieſer
Druck, auch wenn es durch einige Oeffnungen aus-
laufen kann, dadurch nicht unmittelbar und mit einem
male vernichtet wird. Die Begierde der Seele, aus
dem Stuͤckwerk ihres Wiſſens einmal ein Ganzes zu
machen, ließe ſich daraus am vollſtaͤndigſten erklaͤren.
Es iſt moͤglich, daß wir noch auf eine andre Art Luͤ-
cken in unſrer Erkenntniß empfinden, als durch die
bloße Vorſtellung einzelner Fragen, die wir noch nicht
beantworten koͤnnen.

§. 65.

Wir haben uns laͤnger bey der Betrachtung auf-
gehalten, was ein Sehender vor dem Blinden vor-
aus habe, und ob das Geſicht nicht noch von andern
moͤglichen Sinnen uͤbertroffen werden koͤnne? Unge-
achtet wir nun durch eine ſolche Unterſuchung im ge-
ringſten nicht zu mehrern Begriffen gelangen koͤnnen,
als die wir durch unſre dermalige Sinnen haben, ſo
ſcheint doch eine ſolche Unterſuchung weder unnuͤtz noch
unangenehm zu ſeyn, und in beyden Abſichten verdiente
die Frage von der Rangordnung der Sinnen in Ab-
ſicht auf die Ausdehnung der Erkenntniß, die ſie uns
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[495/0517] oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen. zu ſchwache, Empfindungen davon haben, wie wir z. E. die electriſchen, um ſie zu empfinden, verſtaͤrken muͤſſen. Wollte man mit den heutigen Weltweiſen ſetzen, alle moͤgliche einfache Begriffe liegen ſchon in der Seele, und bleiben nur deswegen dunkel, weil ſie durch keine ſtaͤrkere oder uͤberwiegende Empfindung veranlaßt werden, ſo entſteht die Frage, ob nicht alle noch dunkle Begriffe, denen zum klar werden nur der Anlaß fehlt, ungefehr ſo auf den Willen wirken, wie das Waſſer, auch wenn es in Ruhe iſt, auf die Sei- ten oder den Boden des Gefaͤßes druͤckt, und dieſer Druck, auch wenn es durch einige Oeffnungen aus- laufen kann, dadurch nicht unmittelbar und mit einem male vernichtet wird. Die Begierde der Seele, aus dem Stuͤckwerk ihres Wiſſens einmal ein Ganzes zu machen, ließe ſich daraus am vollſtaͤndigſten erklaͤren. Es iſt moͤglich, daß wir noch auf eine andre Art Luͤ- cken in unſrer Erkenntniß empfinden, als durch die bloße Vorſtellung einzelner Fragen, die wir noch nicht beantworten koͤnnen. §. 65. Wir haben uns laͤnger bey der Betrachtung auf- gehalten, was ein Sehender vor dem Blinden vor- aus habe, und ob das Geſicht nicht noch von andern moͤglichen Sinnen uͤbertroffen werden koͤnne? Unge- achtet wir nun durch eine ſolche Unterſuchung im ge- ringſten nicht zu mehrern Begriffen gelangen koͤnnen, als die wir durch unſre dermalige Sinnen haben, ſo ſcheint doch eine ſolche Unterſuchung weder unnuͤtz noch unangenehm zu ſeyn, und in beyden Abſichten verdiente die Frage von der Rangordnung der Sinnen in Ab- ſicht auf die Ausdehnung der Erkenntniß, die ſie uns moͤglich machen, und wie weit man mit jedem reichen wuͤrde, eine ausfuͤhrlichere Unterſuchung. Die erſt ange-

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/517>, abgerufen am 28.03.2024.