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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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so die einfachen Begriffe angeben.
wahr halten, es sey denn, daß er entweder aus Grün-
den oder durch die Erfahrung bewiesen werde, oder
uns wenigstens als bewiesen vorkomme. So lange
dieses nicht ist, giebt der Verstand keinen Beyfall,
und in so ferne verhält er sich, wie Körper, die wegen
ihrer vis inertiae sich nicht von selbst bewegen,
sondern in Bewegung gesetzt werden müssen. Wer
diese vim inertiae des Verstandes in Zweifel zieht,
empfindet sie eben dadurch, daß er ansteht, sie zuzuge-
ben, und durch das Bewußtseyn dieser Empfindung
giebt er sie zu. Daß wir ohne Beweggründe, die
wir uns entweder klar vorstellen, oder dunkel empfin-
den, nichts wollen, ist ebenfalls eine Erfahrung,
die uns zeigt, daß wir auch dem Willen gewisser-
maaßen eine vim inertiae beylegen können. Dem-
nach ist die vis inertiae, so wie die Kraft überhaupt,
ein transcendenter Begriff, der in der transcendenten
Dynamik vorkommt, und in ihren specialern Theilen
mit Zuziehung neuer Bestimmungen auf den Ver-
stand, den Willen und die Körper angewandt wer-
den kann.

§. 105.

Was das Wahre in Absicht auf den Verstand ist,
das ist das Gute in Absicht auf den Willen. Wir
haben daher noch zwo Wissenschaften, welche für den
Willen eben das sind, was die Dianoiologie und die
Alethiologie für den Verstand. Die erste nämlich
enthält die Gesetze des Wollens, nach denen sich der
Wille und überhaupt die Begehrungskräfte richten,
und einander subordinirt sind. Die andre aber be-
trachtet das Object des Willens, oder das Gute, so
wohl an sich, in so fern es nämlich eine Schönheit
und Vollkommenheit hat, als in Absicht auf den
Willen, in so fern es Lust und Begierden erregt.

§. 106.

ſo die einfachen Begriffe angeben.
wahr halten, es ſey denn, daß er entweder aus Gruͤn-
den oder durch die Erfahrung bewieſen werde, oder
uns wenigſtens als bewieſen vorkomme. So lange
dieſes nicht iſt, giebt der Verſtand keinen Beyfall,
und in ſo ferne verhaͤlt er ſich, wie Koͤrper, die wegen
ihrer vis inertiae ſich nicht von ſelbſt bewegen,
ſondern in Bewegung geſetzt werden muͤſſen. Wer
dieſe vim inertiae des Verſtandes in Zweifel zieht,
empfindet ſie eben dadurch, daß er anſteht, ſie zuzuge-
ben, und durch das Bewußtſeyn dieſer Empfindung
giebt er ſie zu. Daß wir ohne Beweggruͤnde, die
wir uns entweder klar vorſtellen, oder dunkel empfin-
den, nichts wollen, iſt ebenfalls eine Erfahrung,
die uns zeigt, daß wir auch dem Willen gewiſſer-
maaßen eine vim inertiae beylegen koͤnnen. Dem-
nach iſt die vis inertiae, ſo wie die Kraft uͤberhaupt,
ein tranſcendenter Begriff, der in der tranſcendenten
Dynamik vorkommt, und in ihren ſpecialern Theilen
mit Zuziehung neuer Beſtimmungen auf den Ver-
ſtand, den Willen und die Koͤrper angewandt wer-
den kann.

§. 105.

Was das Wahre in Abſicht auf den Verſtand iſt,
das iſt das Gute in Abſicht auf den Willen. Wir
haben daher noch zwo Wiſſenſchaften, welche fuͤr den
Willen eben das ſind, was die Dianoiologie und die
Alethiologie fuͤr den Verſtand. Die erſte naͤmlich
enthaͤlt die Geſetze des Wollens, nach denen ſich der
Wille und uͤberhaupt die Begehrungskraͤfte richten,
und einander ſubordinirt ſind. Die andre aber be-
trachtet das Object des Willens, oder das Gute, ſo
wohl an ſich, in ſo fern es naͤmlich eine Schoͤnheit
und Vollkommenheit hat, als in Abſicht auf den
Willen, in ſo fern es Luſt und Begierden erregt.

§. 106.
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[511/0533] ſo die einfachen Begriffe angeben. wahr halten, es ſey denn, daß er entweder aus Gruͤn- den oder durch die Erfahrung bewieſen werde, oder uns wenigſtens als bewieſen vorkomme. So lange dieſes nicht iſt, giebt der Verſtand keinen Beyfall, und in ſo ferne verhaͤlt er ſich, wie Koͤrper, die wegen ihrer vis inertiae ſich nicht von ſelbſt bewegen, ſondern in Bewegung geſetzt werden muͤſſen. Wer dieſe vim inertiae des Verſtandes in Zweifel zieht, empfindet ſie eben dadurch, daß er anſteht, ſie zuzuge- ben, und durch das Bewußtſeyn dieſer Empfindung giebt er ſie zu. Daß wir ohne Beweggruͤnde, die wir uns entweder klar vorſtellen, oder dunkel empfin- den, nichts wollen, iſt ebenfalls eine Erfahrung, die uns zeigt, daß wir auch dem Willen gewiſſer- maaßen eine vim inertiae beylegen koͤnnen. Dem- nach iſt die vis inertiae, ſo wie die Kraft uͤberhaupt, ein tranſcendenter Begriff, der in der tranſcendenten Dynamik vorkommt, und in ihren ſpecialern Theilen mit Zuziehung neuer Beſtimmungen auf den Ver- ſtand, den Willen und die Koͤrper angewandt wer- den kann. §. 105. Was das Wahre in Abſicht auf den Verſtand iſt, das iſt das Gute in Abſicht auf den Willen. Wir haben daher noch zwo Wiſſenſchaften, welche fuͤr den Willen eben das ſind, was die Dianoiologie und die Alethiologie fuͤr den Verſtand. Die erſte naͤmlich enthaͤlt die Geſetze des Wollens, nach denen ſich der Wille und uͤberhaupt die Begehrungskraͤfte richten, und einander ſubordinirt ſind. Die andre aber be- trachtet das Object des Willens, oder das Gute, ſo wohl an ſich, in ſo fern es naͤmlich eine Schoͤnheit und Vollkommenheit hat, als in Abſicht auf den Willen, in ſo fern es Luſt und Begierden erregt. §. 106.

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/533>, abgerufen am 16.04.2024.