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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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VIII. Hauptstück,
gen der Sache zugleich andre schon vorhin
gehabte Vorstellungen einmengen, besonders,
wenn man die Sache mit vorgefaßten Mey-
nungen, Leidenschaften oder Vorurtheilen an-
schaut.
Die Vorurtheile, Leidenschaften und vor-
gefaßten Meynungen sind in Absicht auf die Einbil-
dungskraft und den Verstand, was ein Nebel, ein
Dunst, ein blendend Licht, ein gefärbtes Glas etc. für
die Augen sind. Man sieht bald zu viel, bald zu
wenig, bald anders, als was da ist, und substituirt
den Begriff eines bekannten Dinges für den Begriff
eines Unbekannten. Und auf diese Art erschleicht
man ganz unvermerkt Begriffe und Sätze, die man
getrost für lautere Erfahrungen ausgiebt. (§. 555.)
Die Bilder, die man in den vorigen Zeiten in den
Kometen und Nordlichtern gefunden, da man feurige
Schwerter, Todtenköpfe, Ruthen, Kriegsheere etc.
daraus machte, mögen zum Beyspiele dienen, und
man findet Geschichtschreiber, die nicht ruheten, bis sie
zu einer Begebenheit vorbedeutende Zeichen fanden.
Was in politischen, moralischen, und überhaupt
in Jntereßsachen die Vorurtheile und Leiden-
schaften thun können, ist unnöthig hier anzuführen,
weil jeder sich selbst wahrer oder falscher Beyspiele
bewußt seyn kann, und weil man in solchen Fällen
andre verblendet sieht, oder selbst verblendet ist, so
oft man sieht, was andre nicht sehen, oder nicht sieht,
was andre sehen.

§. 566.

Ein Hauptumstand hiebey ist, daß die
meisten Leute daran gewöhnt sind, und
gewöhnt bleiben, sich alles individual
vorzustellen, und daher, wenn sie nur Frag-
mente oder einzelne Stücke vor sich haben,

das

VIII. Hauptſtuͤck,
gen der Sache zugleich andre ſchon vorhin
gehabte Vorſtellungen einmengen, beſonders,
wenn man die Sache mit vorgefaßten Mey-
nungen, Leidenſchaften oder Vorurtheilen an-
ſchaut.
Die Vorurtheile, Leidenſchaften und vor-
gefaßten Meynungen ſind in Abſicht auf die Einbil-
dungskraft und den Verſtand, was ein Nebel, ein
Dunſt, ein blendend Licht, ein gefaͤrbtes Glas ꝛc. fuͤr
die Augen ſind. Man ſieht bald zu viel, bald zu
wenig, bald anders, als was da iſt, und ſubſtituirt
den Begriff eines bekannten Dinges fuͤr den Begriff
eines Unbekannten. Und auf dieſe Art erſchleicht
man ganz unvermerkt Begriffe und Saͤtze, die man
getroſt fuͤr lautere Erfahrungen ausgiebt. (§. 555.)
Die Bilder, die man in den vorigen Zeiten in den
Kometen und Nordlichtern gefunden, da man feurige
Schwerter, Todtenkoͤpfe, Ruthen, Kriegsheere ꝛc.
daraus machte, moͤgen zum Beyſpiele dienen, und
man findet Geſchichtſchreiber, die nicht ruheten, bis ſie
zu einer Begebenheit vorbedeutende Zeichen fanden.
Was in politiſchen, moraliſchen, und uͤberhaupt
in Jntereßſachen die Vorurtheile und Leiden-
ſchaften thun koͤnnen, iſt unnoͤthig hier anzufuͤhren,
weil jeder ſich ſelbſt wahrer oder falſcher Beyſpiele
bewußt ſeyn kann, und weil man in ſolchen Faͤllen
andre verblendet ſieht, oder ſelbſt verblendet iſt, ſo
oft man ſieht, was andre nicht ſehen, oder nicht ſieht,
was andre ſehen.

§. 566.

Ein Hauptumſtand hiebey iſt, daß die
meiſten Leute daran gewoͤhnt ſind, und
gewoͤhnt bleiben, ſich alles individual
vorzuſtellen, und daher, wenn ſie nur Frag-
mente oder einzelne Stuͤcke vor ſich haben,

das
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[358/0380] VIII. Hauptſtuͤck, gen der Sache zugleich andre ſchon vorhin gehabte Vorſtellungen einmengen, beſonders, wenn man die Sache mit vorgefaßten Mey- nungen, Leidenſchaften oder Vorurtheilen an- ſchaut. Die Vorurtheile, Leidenſchaften und vor- gefaßten Meynungen ſind in Abſicht auf die Einbil- dungskraft und den Verſtand, was ein Nebel, ein Dunſt, ein blendend Licht, ein gefaͤrbtes Glas ꝛc. fuͤr die Augen ſind. Man ſieht bald zu viel, bald zu wenig, bald anders, als was da iſt, und ſubſtituirt den Begriff eines bekannten Dinges fuͤr den Begriff eines Unbekannten. Und auf dieſe Art erſchleicht man ganz unvermerkt Begriffe und Saͤtze, die man getroſt fuͤr lautere Erfahrungen ausgiebt. (§. 555.) Die Bilder, die man in den vorigen Zeiten in den Kometen und Nordlichtern gefunden, da man feurige Schwerter, Todtenkoͤpfe, Ruthen, Kriegsheere ꝛc. daraus machte, moͤgen zum Beyſpiele dienen, und man findet Geſchichtſchreiber, die nicht ruheten, bis ſie zu einer Begebenheit vorbedeutende Zeichen fanden. Was in politiſchen, moraliſchen, und uͤberhaupt in Jntereßſachen die Vorurtheile und Leiden- ſchaften thun koͤnnen, iſt unnoͤthig hier anzufuͤhren, weil jeder ſich ſelbſt wahrer oder falſcher Beyſpiele bewußt ſeyn kann, und weil man in ſolchen Faͤllen andre verblendet ſieht, oder ſelbſt verblendet iſt, ſo oft man ſieht, was andre nicht ſehen, oder nicht ſieht, was andre ſehen. §. 566. Ein Hauptumſtand hiebey iſt, daß die meiſten Leute daran gewoͤhnt ſind, und gewoͤhnt bleiben, ſich alles individual vorzuſtellen, und daher, wenn ſie nur Frag- mente oder einzelne Stuͤcke vor ſich haben, das

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/380>, abgerufen am 28.03.2024.