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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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III. Hauptstück,
abstracten Begriffen die abstractesten, weil sie das
Allgemeine der Körper- und Geisterwelt zusammen
nehmen. Sofern nämlich ganz verschiedene Dinge
einerley Eindruck bey uns machen, sofern nehmen
wir sie in eine Klasse zusammen. Solche Eindrücke
sind nicht bey allen Menschen gleich. Der eine hat
empfindlichere Sinnen, die ihm mehr Verschiedenes
in den Dingen vorstellen, und das Bewußtseyn da-
von erwecken, und er behält es auch leichter im Sin-
ne. Bey andern machen nicht alle Eigenschaften
und einzelnen Empfindungen gleich starken Eindruck.
Dadurch werden nun die Begriffe, so einerley Worte
haben, bey dem einen reicher an Merkmaalen und
vollständiger, als bey dem andern, und selbst der Um-
fang des Begriffes mehr oder minder verschieden.
Man kann dieses bey verschiedenen und öfters ganz
entgegengesetzten Benennungen einer gleichen Sache,
und bey ganz verschiedenen Definitionen einerley Wör-
ter sehen. Z. E. wenn man eine und eben dieselbe
Handlung in einerley Absicht lobt und tadelt, tugend-
haft und lasterhaft etc. nennt. Der Begriff eines
Zeugen wird gemeiniglich so definirt: Ein Zeuge sey
eine Person, die erzählt, was sie gesehen oder gehört
hat. Chladenius in seiner Geschichtswissenschaft
behauptet, diese Definition sey zu allgemein, und
vermenge die Zeugen mit den Urhebern, Aussa-
gern
und Nachsagern einer Nachricht. Ein Zeuge
sey eine Person, die eben das sagt oder aussagt, was
ein andrer schon gesagt hat. Diese Definition scheint
noch darinn mangelhaft zu seyn, daß der eine von des
andern Aussage wissen, und sie als eine Bestätigung
seiner Aussage nehmen muß. Denn das Zeugniß
ist ein Verhältnißbegriff, welcher nicht nur einerley
Aussage fordert, sondern der eine Aussager muß diese

Ueber-

III. Hauptſtuͤck,
abſtracten Begriffen die abſtracteſten, weil ſie das
Allgemeine der Koͤrper- und Geiſterwelt zuſammen
nehmen. Sofern naͤmlich ganz verſchiedene Dinge
einerley Eindruck bey uns machen, ſofern nehmen
wir ſie in eine Klaſſe zuſammen. Solche Eindruͤcke
ſind nicht bey allen Menſchen gleich. Der eine hat
empfindlichere Sinnen, die ihm mehr Verſchiedenes
in den Dingen vorſtellen, und das Bewußtſeyn da-
von erwecken, und er behaͤlt es auch leichter im Sin-
ne. Bey andern machen nicht alle Eigenſchaften
und einzelnen Empfindungen gleich ſtarken Eindruck.
Dadurch werden nun die Begriffe, ſo einerley Worte
haben, bey dem einen reicher an Merkmaalen und
vollſtaͤndiger, als bey dem andern, und ſelbſt der Um-
fang des Begriffes mehr oder minder verſchieden.
Man kann dieſes bey verſchiedenen und oͤfters ganz
entgegengeſetzten Benennungen einer gleichen Sache,
und bey ganz verſchiedenen Definitionen einerley Woͤr-
ter ſehen. Z. E. wenn man eine und eben dieſelbe
Handlung in einerley Abſicht lobt und tadelt, tugend-
haft und laſterhaft ꝛc. nennt. Der Begriff eines
Zeugen wird gemeiniglich ſo definirt: Ein Zeuge ſey
eine Perſon, die erzaͤhlt, was ſie geſehen oder gehoͤrt
hat. Chladenius in ſeiner Geſchichtswiſſenſchaft
behauptet, dieſe Definition ſey zu allgemein, und
vermenge die Zeugen mit den Urhebern, Ausſa-
gern
und Nachſagern einer Nachricht. Ein Zeuge
ſey eine Perſon, die eben das ſagt oder ausſagt, was
ein andrer ſchon geſagt hat. Dieſe Definition ſcheint
noch darinn mangelhaft zu ſeyn, daß der eine von des
andern Ausſage wiſſen, und ſie als eine Beſtaͤtigung
ſeiner Ausſage nehmen muß. Denn das Zeugniß
iſt ein Verhaͤltnißbegriff, welcher nicht nur einerley
Ausſage fordert, ſondern der eine Ausſager muß dieſe

Ueber-
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[534/0556] III. Hauptſtuͤck, abſtracten Begriffen die abſtracteſten, weil ſie das Allgemeine der Koͤrper- und Geiſterwelt zuſammen nehmen. Sofern naͤmlich ganz verſchiedene Dinge einerley Eindruck bey uns machen, ſofern nehmen wir ſie in eine Klaſſe zuſammen. Solche Eindruͤcke ſind nicht bey allen Menſchen gleich. Der eine hat empfindlichere Sinnen, die ihm mehr Verſchiedenes in den Dingen vorſtellen, und das Bewußtſeyn da- von erwecken, und er behaͤlt es auch leichter im Sin- ne. Bey andern machen nicht alle Eigenſchaften und einzelnen Empfindungen gleich ſtarken Eindruck. Dadurch werden nun die Begriffe, ſo einerley Worte haben, bey dem einen reicher an Merkmaalen und vollſtaͤndiger, als bey dem andern, und ſelbſt der Um- fang des Begriffes mehr oder minder verſchieden. Man kann dieſes bey verſchiedenen und oͤfters ganz entgegengeſetzten Benennungen einer gleichen Sache, und bey ganz verſchiedenen Definitionen einerley Woͤr- ter ſehen. Z. E. wenn man eine und eben dieſelbe Handlung in einerley Abſicht lobt und tadelt, tugend- haft und laſterhaft ꝛc. nennt. Der Begriff eines Zeugen wird gemeiniglich ſo definirt: Ein Zeuge ſey eine Perſon, die erzaͤhlt, was ſie geſehen oder gehoͤrt hat. Chladenius in ſeiner Geſchichtswiſſenſchaft behauptet, dieſe Definition ſey zu allgemein, und vermenge die Zeugen mit den Urhebern, Ausſa- gern und Nachſagern einer Nachricht. Ein Zeuge ſey eine Perſon, die eben das ſagt oder ausſagt, was ein andrer ſchon geſagt hat. Dieſe Definition ſcheint noch darinn mangelhaft zu ſeyn, daß der eine von des andern Ausſage wiſſen, und ſie als eine Beſtaͤtigung ſeiner Ausſage nehmen muß. Denn das Zeugniß iſt ein Verhaͤltnißbegriff, welcher nicht nur einerley Ausſage fordert, ſondern der eine Ausſager muß dieſe Ueber-

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/556>, abgerufen am 28.03.2024.