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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
Vierte Zugabe.
Ueber ein Rembrandsches Ecce Homo.

Rembrand und Hogarth sind wohl unter die größten Meister in Gesichtern von schlechten
und zerrütteten Menschen zu rechnen! Schlechte verunstaltete Gesichter kann jeder auch der
schlechteste Mahler leicht entwerfen; ja der schlechte Mahler kann keine andere, als schlechte Ge-
sichter zeichnen! aber wenige wissen, ihren schlechten Gesichtern einen bestimmten Character zu ge-
ben, wissen den Grad des moralischen Verfalls gehörig auszudrücken; haben Gefühl für die
bestimmte Harmonie der moralischen und körperlichen Schlechtigkeit -- -- Hogarth und Rem-
brand
scheinen diese Carrikaturen der Menschheit entweder tief studirt, oder tief gefühlt zu
haben.

"Uebertrieben aber, immer übertrieben?" wird man sagen -- Ja und Nein! --
Hogarth offenbar mehr, als Rembrand; und doch möcht' ich fast behaupten, daß die Na-
tur in allen Absichten höher und tiefer ist, als die Kunst; daß die Kunst nie, oder sehr selten
zu der höchsten Höhe der schönen Natur emporfliegen, oder zur tiefsten Tiefe der gefallenen
Natur herabsinken kann. Jch glaube kaum, daß ein Mahler den Menschen je so schön oder so
schlecht gemacht, oder ein Dichter ihn so gut oder so schlecht gedichtet habe, als er ist. Der
Mensch ist, meines Ermessens, unendlich besser, als eine gewisse theologische Bescheidenheit,
und unendlich schlimmer, als eine gewisse philosophische Unbescheidenheit ihn haben will. Man
hat noch nie von dem Menschen so viel Gutes durch Gebote und Vorschriften fordern dürfen,
als ein guter Mensch zu leisten im Stande und Willens ist; noch nie alle das Böse ausdrück-
lich nennen und verbieten dürfen, das ein böser Mensch zu thun und zu wollen im Stande ist.
Jch möchte noch mehr behaupten: Jch glaube, der beste Mensch hat, wenigstens verschlossen in
der Tiefe seines Herzens, mehr Böses in sich, als man nie von dem Schlimmsten, und der
Schlimmste mehr Gutes, als man nie von dem Besten gesagt hat. Wer sein Herz genau be-
obachtet, wird immer die Hölle und den Himmel drinn finden; Liebe, die alles außer sich zu
beleben -- Eigenliebe, die alles außer sich zu zerstören arbeitet -- Güte, die sich allem unter-
wirft; Eigenliebe, die über alles herrschen will -- Man verzeihe diese kleine Ausschweifung,

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der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Vierte Zugabe.
Ueber ein Rembrandſches Ecce Homo.

Rembrand und Hogarth ſind wohl unter die groͤßten Meiſter in Geſichtern von ſchlechten
und zerruͤtteten Menſchen zu rechnen! Schlechte verunſtaltete Geſichter kann jeder auch der
ſchlechteſte Mahler leicht entwerfen; ja der ſchlechte Mahler kann keine andere, als ſchlechte Ge-
ſichter zeichnen! aber wenige wiſſen, ihren ſchlechten Geſichtern einen beſtimmten Character zu ge-
ben, wiſſen den Grad des moraliſchen Verfalls gehoͤrig auszudruͤcken; haben Gefuͤhl fuͤr die
beſtimmte Harmonie der moraliſchen und koͤrperlichen Schlechtigkeit — — Hogarth und Rem-
brand
ſcheinen dieſe Carrikaturen der Menſchheit entweder tief ſtudirt, oder tief gefuͤhlt zu
haben.

„Uebertrieben aber, immer uͤbertrieben?“ wird man ſagen — Ja und Nein! —
Hogarth offenbar mehr, als Rembrand; und doch moͤcht' ich faſt behaupten, daß die Na-
tur in allen Abſichten hoͤher und tiefer iſt, als die Kunſt; daß die Kunſt nie, oder ſehr ſelten
zu der hoͤchſten Hoͤhe der ſchoͤnen Natur emporfliegen, oder zur tiefſten Tiefe der gefallenen
Natur herabſinken kann. Jch glaube kaum, daß ein Mahler den Menſchen je ſo ſchoͤn oder ſo
ſchlecht gemacht, oder ein Dichter ihn ſo gut oder ſo ſchlecht gedichtet habe, als er iſt. Der
Menſch iſt, meines Ermeſſens, unendlich beſſer, als eine gewiſſe theologiſche Beſcheidenheit,
und unendlich ſchlimmer, als eine gewiſſe philoſophiſche Unbeſcheidenheit ihn haben will. Man
hat noch nie von dem Menſchen ſo viel Gutes durch Gebote und Vorſchriften fordern duͤrfen,
als ein guter Menſch zu leiſten im Stande und Willens iſt; noch nie alle das Boͤſe ausdruͤck-
lich nennen und verbieten duͤrfen, das ein boͤſer Menſch zu thun und zu wollen im Stande iſt.
Jch moͤchte noch mehr behaupten: Jch glaube, der beſte Menſch hat, wenigſtens verſchloſſen in
der Tiefe ſeines Herzens, mehr Boͤſes in ſich, als man nie von dem Schlimmſten, und der
Schlimmſte mehr Gutes, als man nie von dem Beſten geſagt hat. Wer ſein Herz genau be-
obachtet, wird immer die Hoͤlle und den Himmel drinn finden; Liebe, die alles außer ſich zu
beleben — Eigenliebe, die alles außer ſich zu zerſtoͤren arbeitet — Guͤte, die ſich allem unter-
wirft; Eigenliebe, die uͤber alles herrſchen will — Man verzeihe dieſe kleine Ausſchweifung,

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[85/0119] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Vierte Zugabe. Ueber ein Rembrandſches Ecce Homo. Rembrand und Hogarth ſind wohl unter die groͤßten Meiſter in Geſichtern von ſchlechten und zerruͤtteten Menſchen zu rechnen! Schlechte verunſtaltete Geſichter kann jeder auch der ſchlechteſte Mahler leicht entwerfen; ja der ſchlechte Mahler kann keine andere, als ſchlechte Ge- ſichter zeichnen! aber wenige wiſſen, ihren ſchlechten Geſichtern einen beſtimmten Character zu ge- ben, wiſſen den Grad des moraliſchen Verfalls gehoͤrig auszudruͤcken; haben Gefuͤhl fuͤr die beſtimmte Harmonie der moraliſchen und koͤrperlichen Schlechtigkeit — — Hogarth und Rem- brand ſcheinen dieſe Carrikaturen der Menſchheit entweder tief ſtudirt, oder tief gefuͤhlt zu haben. „Uebertrieben aber, immer uͤbertrieben?“ wird man ſagen — Ja und Nein! — Hogarth offenbar mehr, als Rembrand; und doch moͤcht' ich faſt behaupten, daß die Na- tur in allen Abſichten hoͤher und tiefer iſt, als die Kunſt; daß die Kunſt nie, oder ſehr ſelten zu der hoͤchſten Hoͤhe der ſchoͤnen Natur emporfliegen, oder zur tiefſten Tiefe der gefallenen Natur herabſinken kann. Jch glaube kaum, daß ein Mahler den Menſchen je ſo ſchoͤn oder ſo ſchlecht gemacht, oder ein Dichter ihn ſo gut oder ſo ſchlecht gedichtet habe, als er iſt. Der Menſch iſt, meines Ermeſſens, unendlich beſſer, als eine gewiſſe theologiſche Beſcheidenheit, und unendlich ſchlimmer, als eine gewiſſe philoſophiſche Unbeſcheidenheit ihn haben will. Man hat noch nie von dem Menſchen ſo viel Gutes durch Gebote und Vorſchriften fordern duͤrfen, als ein guter Menſch zu leiſten im Stande und Willens iſt; noch nie alle das Boͤſe ausdruͤck- lich nennen und verbieten duͤrfen, das ein boͤſer Menſch zu thun und zu wollen im Stande iſt. Jch moͤchte noch mehr behaupten: Jch glaube, der beſte Menſch hat, wenigſtens verſchloſſen in der Tiefe ſeines Herzens, mehr Boͤſes in ſich, als man nie von dem Schlimmſten, und der Schlimmſte mehr Gutes, als man nie von dem Beſten geſagt hat. Wer ſein Herz genau be- obachtet, wird immer die Hoͤlle und den Himmel drinn finden; Liebe, die alles außer ſich zu beleben — Eigenliebe, die alles außer ſich zu zerſtoͤren arbeitet — Guͤte, die ſich allem unter- wirft; Eigenliebe, die uͤber alles herrſchen will — Man verzeihe dieſe kleine Ausſchweifung, derglei- M 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/119>, abgerufen am 28.03.2024.