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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
Zehnte Zugabe.
Drey Profile nach Possi und Chodowieki.

XI. Tafel.

"Es sind, sagt Winkelmann, viele wahrhaftig schöne Kinderköpfe aus dem Alterthume übrig.
"Das allerschönste Kind aber, welches sich, wiewohl verstümmelt, aus dem Alterthum erhalten
"hat, ist ein kindlicher Satyr, ungefähr von einem Jahr' in Lebensgröße, in der Villa Al-
"bani. Dieses Kind ist mit Epheu bekränzet, und trinket, vermuthlich aus einem Schlauche,
"welcher aber mangelt, mit solcher Begierde und Wollust, daß die Augäpfel ganz aufwärts
"gedrehet sind, und nur eine Spur von dem tiefgearbeiteten Stern zu sehen ist. Ein bekann-
"tes Vorurtheil, welches sich gleichsam, ich weiß nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die
"alten Künstler, in Bildung der Kinder, weit unter den neuern sind, würde also dadurch
"widerlegt." *)

Jch glaube, daß die zwey obern von Pfenningern nach Possi geäzten Profile eben
das Köpfchen vorstellen, wovon Winkelmann spricht.

Aber ich gestehe aufrichtig, daß sie mir nicht gefallen. Jch rede von den Copien, die
jedoch richtig und getreu zu seyn scheinen.

Es ist wahr, Kinderköpfe haben selten zurückgehende Stirnen; haben sie nie so, wie
dieselben Köpfe, wenn sie älter und fester sind. Aber diese hohe, so perpendikuläre, so in der
Mitte eingebogne Stirn ist an einem Kinde unerträglich, ist ein unverzeihlicher Fehler wider
die Natur, und wider die Schönheit, um so viel unverzeihlicher, weil das Hinterhaupt des
Kindes so stark vorgewölbt ist. Diese starke Vorwölbung des Hinterhauptes ist, wie wir
noch oft zu bemerken Gelegenheit haben werden, größtentheils feingebauten, zarten, furchtsa-
men, bis zur Blödigkeit gütigen, eigen. Solche Stirnen hingegen, wie die sind, die wir vor
uns haben, sind durchaus der Character der Hartnäckigsten, Unbiegsamsten, Eigensinnigsten,
Unerbittlichsten. Sie sind das Werk der Natur! Aber zugleich auch der Leidenschaft! Eine
solche Stirne hat die Natur keinem Kinde dieses Alters angeformt! Eine solche Stirne konnte

bey
*) Winkelmanns Geschichte der Kunst I. Th. IV. Cap. S. 234.
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Zehnte Zugabe.
Drey Profile nach Poſſi und Chodowieki.

XI. Tafel.

Es ſind, ſagt Winkelmann, viele wahrhaftig ſchoͤne Kinderkoͤpfe aus dem Alterthume uͤbrig.
„Das allerſchoͤnſte Kind aber, welches ſich, wiewohl verſtuͤmmelt, aus dem Alterthum erhalten
„hat, iſt ein kindlicher Satyr, ungefaͤhr von einem Jahr' in Lebensgroͤße, in der Villa Al-
„bani. Dieſes Kind iſt mit Epheu bekraͤnzet, und trinket, vermuthlich aus einem Schlauche,
„welcher aber mangelt, mit ſolcher Begierde und Wolluſt, daß die Augaͤpfel ganz aufwaͤrts
„gedrehet ſind, und nur eine Spur von dem tiefgearbeiteten Stern zu ſehen iſt. Ein bekann-
„tes Vorurtheil, welches ſich gleichſam, ich weiß nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die
„alten Kuͤnſtler, in Bildung der Kinder, weit unter den neuern ſind, wuͤrde alſo dadurch
„widerlegt.“ *)

Jch glaube, daß die zwey obern von Pfenningern nach Poſſi geaͤzten Profile eben
das Koͤpfchen vorſtellen, wovon Winkelmann ſpricht.

Aber ich geſtehe aufrichtig, daß ſie mir nicht gefallen. Jch rede von den Copien, die
jedoch richtig und getreu zu ſeyn ſcheinen.

Es iſt wahr, Kinderkoͤpfe haben ſelten zuruͤckgehende Stirnen; haben ſie nie ſo, wie
dieſelben Koͤpfe, wenn ſie aͤlter und feſter ſind. Aber dieſe hohe, ſo perpendikulaͤre, ſo in der
Mitte eingebogne Stirn iſt an einem Kinde unertraͤglich, iſt ein unverzeihlicher Fehler wider
die Natur, und wider die Schoͤnheit, um ſo viel unverzeihlicher, weil das Hinterhaupt des
Kindes ſo ſtark vorgewoͤlbt iſt. Dieſe ſtarke Vorwoͤlbung des Hinterhauptes iſt, wie wir
noch oft zu bemerken Gelegenheit haben werden, groͤßtentheils feingebauten, zarten, furchtſa-
men, bis zur Bloͤdigkeit guͤtigen, eigen. Solche Stirnen hingegen, wie die ſind, die wir vor
uns haben, ſind durchaus der Character der Hartnaͤckigſten, Unbiegſamſten, Eigenſinnigſten,
Unerbittlichſten. Sie ſind das Werk der Natur! Aber zugleich auch der Leidenſchaft! Eine
ſolche Stirne hat die Natur keinem Kinde dieſes Alters angeformt! Eine ſolche Stirne konnte

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*) Winkelmanns Geſchichte der Kunſt I. Th. IV. Cap. S. 234.
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[103/0147] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Zehnte Zugabe. Drey Profile nach Poſſi und Chodowieki. XI. Tafel. „Es ſind, ſagt Winkelmann, viele wahrhaftig ſchoͤne Kinderkoͤpfe aus dem Alterthume uͤbrig. „Das allerſchoͤnſte Kind aber, welches ſich, wiewohl verſtuͤmmelt, aus dem Alterthum erhalten „hat, iſt ein kindlicher Satyr, ungefaͤhr von einem Jahr' in Lebensgroͤße, in der Villa Al- „bani. Dieſes Kind iſt mit Epheu bekraͤnzet, und trinket, vermuthlich aus einem Schlauche, „welcher aber mangelt, mit ſolcher Begierde und Wolluſt, daß die Augaͤpfel ganz aufwaͤrts „gedrehet ſind, und nur eine Spur von dem tiefgearbeiteten Stern zu ſehen iſt. Ein bekann- „tes Vorurtheil, welches ſich gleichſam, ich weiß nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die „alten Kuͤnſtler, in Bildung der Kinder, weit unter den neuern ſind, wuͤrde alſo dadurch „widerlegt.“ *) Jch glaube, daß die zwey obern von Pfenningern nach Poſſi geaͤzten Profile eben das Koͤpfchen vorſtellen, wovon Winkelmann ſpricht. Aber ich geſtehe aufrichtig, daß ſie mir nicht gefallen. Jch rede von den Copien, die jedoch richtig und getreu zu ſeyn ſcheinen. Es iſt wahr, Kinderkoͤpfe haben ſelten zuruͤckgehende Stirnen; haben ſie nie ſo, wie dieſelben Koͤpfe, wenn ſie aͤlter und feſter ſind. Aber dieſe hohe, ſo perpendikulaͤre, ſo in der Mitte eingebogne Stirn iſt an einem Kinde unertraͤglich, iſt ein unverzeihlicher Fehler wider die Natur, und wider die Schoͤnheit, um ſo viel unverzeihlicher, weil das Hinterhaupt des Kindes ſo ſtark vorgewoͤlbt iſt. Dieſe ſtarke Vorwoͤlbung des Hinterhauptes iſt, wie wir noch oft zu bemerken Gelegenheit haben werden, groͤßtentheils feingebauten, zarten, furchtſa- men, bis zur Bloͤdigkeit guͤtigen, eigen. Solche Stirnen hingegen, wie die ſind, die wir vor uns haben, ſind durchaus der Character der Hartnaͤckigſten, Unbiegſamſten, Eigenſinnigſten, Unerbittlichſten. Sie ſind das Werk der Natur! Aber zugleich auch der Leidenſchaft! Eine ſolche Stirne hat die Natur keinem Kinde dieſes Alters angeformt! Eine ſolche Stirne konnte bey *) Winkelmanns Geſchichte der Kunſt I. Th. IV. Cap. S. 234.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/147>, abgerufen am 19.04.2024.