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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
angeführten Absichten die möglichste Vollkommenheit erreicht hat; so bleibt mir dennoch immer
gewiß, daß Raphael die Harmonie körperlicher und moralischer Schönheiten mehr als keiner
von allen mir bekannten Mahlern gefühlt und studirt zu haben scheint.

Vierzehnte Zugabe.
Vier Porträte von Raphael.

XV. Tafel.

Wir haben Raphaelen schon so oft genannt, daß es nicht fremde scheinen wird, wenn wir
nun auch ein paar Worte über sein Gesichte sagen.

"Seine Gemälde sind wie sein Gesicht" erinnere ich mich irgendwo gelesen zu haben;
oder: "Es brauchte auch ein solch Gesicht, um so zu mahlen!" welche Harmonie moralischer
und körperlicher Schönheit! -- Jch werde hier nicht Raphaelen commentiren. Die Folge
wird uns noch ein weit besseres und herrlicheres Gesichte dieses großen Mannes vorlegen. Dann
soll mehr von ihm gesagt werden.

Alle diese vier Köpfe, wovon drey offenbar nach Einem Original copirt sind, drücken
doch, bey aller ihrer Unvollkommenheit -- die edle stille hohe Einfalt seines Geistes aus. Jene
so seltne Einfalt, die durch keine Leerheit entnervt, durch kein geheimes Feuer verbrannt wird.
Ruhe mit verborgner Kraft! Blick voll Licht und sanfter Wärme -- voll tiefer Ueberlegung,
die aber -- nicht gelernt, nicht angewöhnt, die Natur und innere Kraft ist!

Das erste scheint mir das schwächste; stärker das zweyte; das dritte noch geistiger --
und das vierte apostolisch erhaben zu seyn. Blick, Stellung, Nase, Mund und Haar --
Besonders aber die Wendung der Augbraunenlinie gegen die Nase -- zeigt mir das Erhabne.
Wäre dieser Kopf 4 besser gezeichnet und schattiert, wollt' ich mehr darüber sagen. Das linke
Naßloch ist fatal. Dem Kinne und der Stirne fehlt viel zur Harmonie des Ganzen -- aber,
ich habe dennoch ach -- unter den Sterblichen keinen solchen Kopf gefunden -- so wenig ich
irgend ein einziges Stück gesehen, das seinen Arbeiten beykömmt. Eine Figur von Raphael,
eine Strophe von Klopstock, eine Arie von Pergolese -- wenn ich mein Aug' und Ohr und
Herz erheben und mit Wollust tränken will, was will ich mehr! -- --

Funfzehnte
Q 3

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
angefuͤhrten Abſichten die moͤglichſte Vollkommenheit erreicht hat; ſo bleibt mir dennoch immer
gewiß, daß Raphael die Harmonie koͤrperlicher und moraliſcher Schoͤnheiten mehr als keiner
von allen mir bekannten Mahlern gefuͤhlt und ſtudirt zu haben ſcheint.

Vierzehnte Zugabe.
Vier Portraͤte von Raphael.

XV. Tafel.

Wir haben Raphaelen ſchon ſo oft genannt, daß es nicht fremde ſcheinen wird, wenn wir
nun auch ein paar Worte uͤber ſein Geſichte ſagen.

„Seine Gemaͤlde ſind wie ſein Geſicht“ erinnere ich mich irgendwo geleſen zu haben;
oder: „Es brauchte auch ein ſolch Geſicht, um ſo zu mahlen!“ welche Harmonie moraliſcher
und koͤrperlicher Schoͤnheit! — Jch werde hier nicht Raphaelen commentiren. Die Folge
wird uns noch ein weit beſſeres und herrlicheres Geſichte dieſes großen Mannes vorlegen. Dann
ſoll mehr von ihm geſagt werden.

Alle dieſe vier Koͤpfe, wovon drey offenbar nach Einem Original copirt ſind, druͤcken
doch, bey aller ihrer Unvollkommenheit — die edle ſtille hohe Einfalt ſeines Geiſtes aus. Jene
ſo ſeltne Einfalt, die durch keine Leerheit entnervt, durch kein geheimes Feuer verbrannt wird.
Ruhe mit verborgner Kraft! Blick voll Licht und ſanfter Waͤrme — voll tiefer Ueberlegung,
die aber — nicht gelernt, nicht angewoͤhnt, die Natur und innere Kraft iſt!

Das erſte ſcheint mir das ſchwaͤchſte; ſtaͤrker das zweyte; das dritte noch geiſtiger —
und das vierte apoſtoliſch erhaben zu ſeyn. Blick, Stellung, Naſe, Mund und Haar —
Beſonders aber die Wendung der Augbraunenlinie gegen die Naſe — zeigt mir das Erhabne.
Waͤre dieſer Kopf 4 beſſer gezeichnet und ſchattiert, wollt' ich mehr daruͤber ſagen. Das linke
Naßloch iſt fatal. Dem Kinne und der Stirne fehlt viel zur Harmonie des Ganzen — aber,
ich habe dennoch ach — unter den Sterblichen keinen ſolchen Kopf gefunden — ſo wenig ich
irgend ein einziges Stuͤck geſehen, das ſeinen Arbeiten beykoͤmmt. Eine Figur von Raphael,
eine Strophe von Klopſtock, eine Arie von Pergoleſe — wenn ich mein Aug' und Ohr und
Herz erheben und mit Wolluſt traͤnken will, was will ich mehr! — —

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/171>, abgerufen am 23.04.2024.