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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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X. Fragment. Von den oft nur scheinbaren
len und tausend Zungen zischen ihm entgegen -- "Dieß Urtheil hätte dem Physiognomisten nicht
"entfahren sollen;" abermal, wer macht da den Fehlschluß? --

Dieß sind einige Winke für die Verständigen -- so behutsam über den Physiognomisten
zu urtheilen, als sie wünschen, daß er über andere, über sie selbst urtheilen möge.

Zugabe.

Mit physiognomischen Gefühlen und Urtheilen geht es wie mit allen Gefühlen und Urtheilen.
Wenn man Misverstand verhüten, keinen Widerspruch dulden wollte, müßte man damit sich gar
nicht an Laden legen.

Keinem Menschen kann die Allgemeinheit zugestanden werden, sie wird keinem zugestan-
den. Das, was ein Theil Menschen als göttlich, herrlich, überschwänglich anbeten, wird von
andern als kalt, als abgeschmackt verworfen. Nicht aber, daß ich dadurch wieder in die alte Nacht
mich schlafen legen, und so eindämmernd hinlallen wollte: also hält einer das vor schön und gut,
der andere das; also ist alles unbestimmt, also packt ein mit eurer Physiognomik. Nicht so! Wie
die Sachen eine Physiognomie haben, so haben auch die Urtheile die ihrige, und eben daß die
Urtheile verschieden sind, beweist noch nicht, daß ein Ding bald so, bald so ist. Nehmen wir zum
Beyspiel ein Buch, das die Freuden und das Elend der Liebe mit den lebhaftesten Farben schildert.
Alle junge Leute fallen drüber her, erheben, verzehren, verschlingen es; und ein Alter, dem's unter
die Hände kommt, macht's gelassen oder unwillig zu, und sagt: "Das verliebte Zeug! Leider,
"daß es in der Welt so ist, was braucht man's noch zu schreiben?"

Lassen Sie nun von jeder Seite einen Kämpfer auftreten! Der eine wird beweisen, daß
das Buch vortrefflich ist, der andere, daß es elend ist! Und welcher hat Recht? Wer soll's ent-
scheiden? Niemand, denn der Physiognomist. Der tritt dazwischen und sagt: begebt euch zur
Ruh, euer ganzer Streit nährt sich mit den Worten fürtrefflich und elend. Das Buch ist we-
der fürtrefflich noch elend. Es hat nur deine ganze Gestalt, guter Jüngling, es enthält alles, was
sie bezeichnet: diese blühende Wange, diesen hoffenden Blick, diese vordringende Stirn; und
weil dir's gleich sieht, weil es vor dir steht, wie du vor dir selbst oder deinem Spiegel, so nennst
du's deines Gleichen, oder welches eins ist, deinen Freund, oder welches eins ist, fürtrefflich. Du

Alter

X. Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
len und tauſend Zungen ziſchen ihm entgegen — „Dieß Urtheil haͤtte dem Phyſiognomiſten nicht
„entfahren ſollen;“ abermal, wer macht da den Fehlſchluß? —

Dieß ſind einige Winke fuͤr die Verſtaͤndigen — ſo behutſam uͤber den Phyſiognomiſten
zu urtheilen, als ſie wuͤnſchen, daß er uͤber andere, uͤber ſie ſelbſt urtheilen moͤge.

Zugabe.

Mit phyſiognomiſchen Gefuͤhlen und Urtheilen geht es wie mit allen Gefuͤhlen und Urtheilen.
Wenn man Misverſtand verhuͤten, keinen Widerſpruch dulden wollte, muͤßte man damit ſich gar
nicht an Laden legen.

Keinem Menſchen kann die Allgemeinheit zugeſtanden werden, ſie wird keinem zugeſtan-
den. Das, was ein Theil Menſchen als goͤttlich, herrlich, uͤberſchwaͤnglich anbeten, wird von
andern als kalt, als abgeſchmackt verworfen. Nicht aber, daß ich dadurch wieder in die alte Nacht
mich ſchlafen legen, und ſo eindaͤmmernd hinlallen wollte: alſo haͤlt einer das vor ſchoͤn und gut,
der andere das; alſo iſt alles unbeſtimmt, alſo packt ein mit eurer Phyſiognomik. Nicht ſo! Wie
die Sachen eine Phyſiognomie haben, ſo haben auch die Urtheile die ihrige, und eben daß die
Urtheile verſchieden ſind, beweiſt noch nicht, daß ein Ding bald ſo, bald ſo iſt. Nehmen wir zum
Beyſpiel ein Buch, das die Freuden und das Elend der Liebe mit den lebhafteſten Farben ſchildert.
Alle junge Leute fallen druͤber her, erheben, verzehren, verſchlingen es; und ein Alter, dem's unter
die Haͤnde kommt, macht's gelaſſen oder unwillig zu, und ſagt: „Das verliebte Zeug! Leider,
„daß es in der Welt ſo iſt, was braucht man's noch zu ſchreiben?“

Laſſen Sie nun von jeder Seite einen Kaͤmpfer auftreten! Der eine wird beweiſen, daß
das Buch vortrefflich iſt, der andere, daß es elend iſt! Und welcher hat Recht? Wer ſoll's ent-
ſcheiden? Niemand, denn der Phyſiognomiſt. Der tritt dazwiſchen und ſagt: begebt euch zur
Ruh, euer ganzer Streit naͤhrt ſich mit den Worten fuͤrtrefflich und elend. Das Buch iſt we-
der fuͤrtrefflich noch elend. Es hat nur deine ganze Geſtalt, guter Juͤngling, es enthaͤlt alles, was
ſie bezeichnet: dieſe bluͤhende Wange, dieſen hoffenden Blick, dieſe vordringende Stirn; und
weil dir's gleich ſieht, weil es vor dir ſteht, wie du vor dir ſelbſt oder deinem Spiegel, ſo nennſt
du's deines Gleichen, oder welches eins iſt, deinen Freund, oder welches eins iſt, fuͤrtrefflich. Du

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[140/0208] X. Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren len und tauſend Zungen ziſchen ihm entgegen — „Dieß Urtheil haͤtte dem Phyſiognomiſten nicht „entfahren ſollen;“ abermal, wer macht da den Fehlſchluß? — Dieß ſind einige Winke fuͤr die Verſtaͤndigen — ſo behutſam uͤber den Phyſiognomiſten zu urtheilen, als ſie wuͤnſchen, daß er uͤber andere, uͤber ſie ſelbſt urtheilen moͤge. Zugabe. Mit phyſiognomiſchen Gefuͤhlen und Urtheilen geht es wie mit allen Gefuͤhlen und Urtheilen. Wenn man Misverſtand verhuͤten, keinen Widerſpruch dulden wollte, muͤßte man damit ſich gar nicht an Laden legen. Keinem Menſchen kann die Allgemeinheit zugeſtanden werden, ſie wird keinem zugeſtan- den. Das, was ein Theil Menſchen als goͤttlich, herrlich, uͤberſchwaͤnglich anbeten, wird von andern als kalt, als abgeſchmackt verworfen. Nicht aber, daß ich dadurch wieder in die alte Nacht mich ſchlafen legen, und ſo eindaͤmmernd hinlallen wollte: alſo haͤlt einer das vor ſchoͤn und gut, der andere das; alſo iſt alles unbeſtimmt, alſo packt ein mit eurer Phyſiognomik. Nicht ſo! Wie die Sachen eine Phyſiognomie haben, ſo haben auch die Urtheile die ihrige, und eben daß die Urtheile verſchieden ſind, beweiſt noch nicht, daß ein Ding bald ſo, bald ſo iſt. Nehmen wir zum Beyſpiel ein Buch, das die Freuden und das Elend der Liebe mit den lebhafteſten Farben ſchildert. Alle junge Leute fallen druͤber her, erheben, verzehren, verſchlingen es; und ein Alter, dem's unter die Haͤnde kommt, macht's gelaſſen oder unwillig zu, und ſagt: „Das verliebte Zeug! Leider, „daß es in der Welt ſo iſt, was braucht man's noch zu ſchreiben?“ Laſſen Sie nun von jeder Seite einen Kaͤmpfer auftreten! Der eine wird beweiſen, daß das Buch vortrefflich iſt, der andere, daß es elend iſt! Und welcher hat Recht? Wer ſoll's ent- ſcheiden? Niemand, denn der Phyſiognomiſt. Der tritt dazwiſchen und ſagt: begebt euch zur Ruh, euer ganzer Streit naͤhrt ſich mit den Worten fuͤrtrefflich und elend. Das Buch iſt we- der fuͤrtrefflich noch elend. Es hat nur deine ganze Geſtalt, guter Juͤngling, es enthaͤlt alles, was ſie bezeichnet: dieſe bluͤhende Wange, dieſen hoffenden Blick, dieſe vordringende Stirn; und weil dir's gleich ſieht, weil es vor dir ſteht, wie du vor dir ſelbſt oder deinem Spiegel, ſo nennſt du's deines Gleichen, oder welches eins iſt, deinen Freund, oder welches eins iſt, fuͤrtrefflich. Du Alter

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/208>, abgerufen am 28.03.2024.